Rubiner, Ludwig
Die Gewaltlosen
263
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LudwifT Ruin' n.' ;•
C'ji'ClUfciii'i'f!'!'"!'' JÜ'AO<Im'. '»:?-'tyii '.jj;;!^
DER D'RAMATISGHE WILLE
ERSTER BAND
DIE GEWALTLOSEN
DRAMA IN VIER AKTEN
VON
LUDWIG RüßlNER
I. — 10. Tausend
Gustav Kiepenheu er Verlag Potsdam
I 9 I 9
Dem Kameraden, meiner Frau Frida
?r
Zh\H
PERSONEN
DER MANN
DIE FRAU
KLOTZ
DER GOUVERNEUR
ANNA
NAUKE
DER ERSTE GEFÄNGNIS WÄCHTER
DER ZWEITE GEFÄNGNISWÄCHTER
DER OFFIZIER
DER ERSTE GEFANGENE
DER ZWEITE GEFANGENE
DER KRANKE AUF DEM SCHIFF
DER KAPITÄN
DER FÜHRER DER BÜRGER
DREI BÜRGER
DER BUCKLIGE
DER KRÜPPEL
DER JUNGE MENSCH
DREI REVOLUTIONÄRINNEN DER STADT
DER JUNGE VON DER STRASSE
DER HERR IM ZYLINDER
DIE FRAU AUS DEM VOLK
EIN SOLDAT
VOLK. SOLDATEN. MATROSEN
DIE SCHIFFSGEFANGENEN
Die Niederschrift dieser Legende wurde
im Januar i 9 i 7 begonnen, iinHerbst i 9 1 8
beendet. Inmitten der härtesten Verzweif-
lungsjahre, während die Siege des JVelt-
kapitalismus sich über den Völkern hin
und her wälzten. — Zürich. — Die Per-
sonen des Dramas sind die Vertreter von
Ideen. Ein Ideenwerk hilft der Zeit, zu
ihrem Ziel zu gelangen, indem es über die
Zeit hinweg das letzte Ziel selbst als Wirk-
lichkeit aufstellt
Den Bühnen gegenüber Manuskript. Alle Rechte vorbe-
halten, besonders das der Übersetzung. Das Aufführungs-
recht ist vom Verlag Gustav Kiepenheuer zu erwerben.
Copyright by Gustav Kiepenheuer Verlag Potsdam
ERSTER ART
ERSTE SZENE
Strassenecke
DerMann/EinJungeausderMenge/Eine
Frau aus der Menge/Ein alter Mann / Ein
Herr mit Zylinder / Volksmenge
DER MANN fan einer Ecke, schreit J: Hier ist es.
Hier! Alles findet ihr hier MEN GE fsammett sich).
EllüE FR k\J f aus der MengeJ: Haben Sie hier Milch?
EINALTERMANN f läuft atemlos herzu) : Sie sagen
drüben, hier gibt es Fleisch ! E I N H E R R (mit Zy-
linder auf dem Kopfe): Ist es wahr, dass man Koh-
len kriegt ? DERMANN: Umsonst ! Ganz umsonst !
Alles wird verschenkt! Das Leben verschenkt!
MENGE: Wo? DERMANN: Du kannst haben,
soviel du willst. Jeder, der will, bekommt seinen
Teil! MENGE: Ich war zuerst da. Ich! DER
MANN: Niemand braucht länger zu warten. Auf-
gepasst. Jeder bekommt gleich alles. Das Leben 1
EIN JUNGE (aus der Menge): Der redet so auslän-
disch. Das ist gewiss ein Spion. EIN ALTER
MANN: Wo ist die Polizei? Ich stehe schon eine
ganze Nacht. Man weiss heute nicht, mit wem man
zu tun hat. DER MANN (zum Jungen): Du kriegst
Zigaretten. (Zum alten Mann): Ihr kriegt alle Brot!
DIE FRAU AUS DER MENGE: Ich kann nicht län-
ger. Ich falle um. DER MANN: Ihr braucht nicht
mehr zu leiden! (Zu der Frau): Halten Sie noch
einen Augenblick aus, es wird alles gut. DER
ALTE MANN: Vor dem Sterben noch was essen!
DER MANN: Sie brauchen nicht zu sterben. Seht
mich an, ich sterbe auch nicht. Niemand braucht
zu sterben. Ihr könnt alles Leben haben, das ihr
wollt! Ihr wollt, ihr wollt, ihr wollt! MENGE:
Ja! DER MANN: Ihr wollt frei sein. Ihr werdet
nicht sterben. DER JUNGE: Die Polizei kommt!
AUS DER MENGE: Maschinengewehre. Militär!
Die Truppen. DER MANN: Die Soldaten sind
eure Brüder, sie dürfen nicht schiessen. MENGE
{Tumult): Sie schiessen! (Dunkel.) DER MANN
(schon aus dem Dunkel): Soldaten, Brüder! Ihr
dürft nicht schiessen !
ZWEITE SZENE
Zim^mer
Der Mann / Die Frau
DER MANN: Jetzt haben sie den Eingang zum Ne-
benhaus. DIE FRAU: Es geht gegen Morgen,
ist das nicht Brandgeruch? DER MANN: Sie le-
gen Feuer, damit wir herauskommen. DIE FRAU:
Ich rede mit dem Offizier. DER MANN: Nein.
Sie sollen mich nicht lebendig haben. DIE FRAU:
Was hilfts dir, wenn du tot bist? — So ist noch
eine Möglichkeit. DER MANN: Sie sind schon
auf dem Dach. Wir haben keine Waffen. DIE
FRAU: Ich winke mit dem Tuch aus dem Fenster,
dann holen sie uns. Ich will nicht ersticken, wie
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die drüben. DER MANN: Wir können nicht mehr
heraus. DIE FRAü: Wenn ich sie hereinlasse,
kommen wir vielleicht noch davon. DER MANN:
Nein. Sie schiessen auf uns. Lieber wehren, bis zum
letzten Moment, D I E F R A U : Womit willst du dich
wehren ? DERMANN: W^ir haben keine Waffen. Ich
kann mit dem Stuhl den ersten,der zur Tür kommt,
niederschlagen. DIE FRAU: Das ist nur einer;
sie schiessen die Wände ein und kommen durchs
Fenster. Dem ersten, der kommt, springe ich an
den Hals und beisse ihm die Gurgel durch. Dann
weiss man, wofür man stirbt. DER MANN: Nein
— - das rettet uns nicht. Sie morden — wir nicht !
DIE FRAU: Aber wie davonkommen — ohne Ge-
Avalt? DER MANN: Mord und Gewalt ist nicht
dasselbe! DIE FRAU: Verwirr mich nicht. Ich
sehe nur dies: Unser heutiges Leben — Gewalt.
Unser Ziel — Gewaltlosigkeit!
DER MANN: Luise, ich höre sie kommen. Es ist
unser letzter Augenblick- DIE FRAU: Es ist heiss
im Zimmer. Der Brand von nebenan schlägt her-
über. DERMANN: Ich werde mich ergeben,
dann wird dir nichts geschehen. DIE FRAU:
Nein, so nicht. Ich habe mit dir gekämpft. Ich
lasse dich nicht im Stich. DER MANN: Es wird
hell draussen. Ich nehme alles auf mich. Bleib
hier. Ich gehe ihnen entgegen. DIE FRAU: Bleibe.
Ich lasse dich nicht. Wir sterben zusammen!
DER MANN: Nein, nicht sterben. Ich will nicht
sterben. Wir haben noch nichts getan. Es ist noch
nichts getan. DIE FRAU: Zu spät. DER MANN:
Zu spät oder nicht. Wie still es ist. Man hört nur
9
die Schüsse, wie in einer Fabrik. Die Strasse ist
ganz still.
DIR FRAU: Du bist jetzt so ruhig. Fast könnte
ich Mut haben. DER MANN: Wir haben nichts
zu verheren. Glaube nur diesmal noch. DIE
FRAU: Wir sollten uns nicht rühren, wenn sie
kommen. DER MANN: Dann machen sie uns
nieder. DIE FRAU: Sie sollen uns niedermachen.
Sie sollen uns binden, sie sollen uns erschlagen.
DER MANN: Sie werden uns foltern, wie sie die
Kameraden gefoltert haben. Sie werden uns Ge-
ständnisse erpressen, und dann erschiessen sie uns.
DIE FRAU: Sie erpressen uns nichts. Wir wehren
uns nicht, und wir schweigen. DER MANN: Ich
rühre mich nicht. Unser Wille ist mehr als ihre
Gewalt! — Es geht zu Ende. Luise, küsse mich.
DIE FRAU: Nein, nicht küssen. — Denke ganz an
mich. DER MANN: Jetzt ist alles gleich. Du bist
mein Freund, meine Schwester, mein Wesen,
meine Frau. Es ist gleich, ob sie uns martern. Das
ist gekommen, wann ich es nicht miehr erwartet
habe. DIE FRAU: Ich umschlinge dich ganz fest.
Ich denke nur von dir. — Sei ganz bei mir. Nun
können sie morden. DER MANN: Ich will nur
noch bei dir sein. Ich höre nur dich. Ich bin so
stark bei dir. DIE FRAU: Alle Menschen stossen
mich zu dir. Ich höre nur deine Stimme noch.
Wir sind ganz allein. DER MANN: Wir sind
ganz allein. Alle sind tot. Ich weiss nur noch von
dir. Ich habe nur noch dich. Vielleicht entkommen
wir über die Leiter an der Wand. DIE FRAU.
Sie sehen uns. DER MANN: Sie werden uns nicht
IG
sehen. Ich will. DIP: FRAU: Ich will, dass sie
uns nicht sehen. Ich will so stark, dass ich lautlos
und wie eine Tote unsichtbar bin. DER MANN.
Ich will, dass wir leben. Wir dürfen noch nicht
hin sein. DIE FRAU: Ich will, dass du lebst.
Wir haben noch alles zu tun. DER MANN:
Komm, leise. Hinab. Ich will, dass wir ein Schat-
ten der Mauer sind. Verschwinden. DIE FRAU:
Verschwinden unter den Steinen, unter den Men-
schen für das Leben. Ich glaube an dich. DER
MANN: Fliege mit mir, komm. Ich will. Halte
dich an mir. Wir schweben. DIE FRAU: Hin-
unter. Hilf mir. Ich will. DER MANN: Glaube,
dass du träumst. Fliege im Schlaf; du rührst nur
leise die Füsse. Niemand sieht dich. DIE FRAU:
Ich schwebe mit dir. (Im Dunkel nur die beleuchte-
ten Köpfe von Mann und Fi- au.)
DERMÄNN: Jetzt. Wirfliegen. DIEFRAU: Es wird
so dunkel. Hinab. Wer zieht mich hinauf? DER
MANN: Rund um mich ist dunkel. DIE FRAU:
Meine Füsse sind nicht auf Festem. Der Boden
sinkt. DER MANN: Unten ist hell. DIEFRAU:
Wir sind in einem Gang. DER MANN: Schreite,
schreite. Es brennt wie Feuer. Komm hindurch!
DIE FRAU: Mit dir. Wo sind wir? Ich strecke den
Arm, ich fühle keine Wände. Ein runder Gang ist
um uns. DER MANN: Hinab. Es reisst uns hinab.
Rasende Schnelligkeit. Woran halt ich mich fest?
DIE FRAU: Halte mich fest. Ich sinke. DER
MANN: Wer ist da? Ich ersticke. Ist ein Mensch
da? Wer steht da im Dunkel? DIE FRAU: Hin-
durch! O eile. DER MANN: Die letzte Kraft. Wir
1 1
sind in einer finsteren Höhle. Ich sterbe für dich.
DIE FRAU: Lebe und töte mich. Ich bin nicht
mehr. DER MANN: Luft. Atme! Ich sehe Sterne.
Es ist fest unter meinen Füssen. Luise, frei!
DIE FRAU: Dass ich noch lebe! Fort, fort. Es ist
mein Leib. DER MANN: Wir leben. Kein Mensch
>vird mehr sterben. Wir helfen allen. Wir sind
stark.
DRITTE SZENE
Strasse vor dem Zimmer
Vorige / Später Soldaten
Der Mann und die Frau machen den letzten Schritt
aus dem Dunkel auf die helle Strasse. Vor ihnen
Trümmer einer Barrikade.
DIE FRAU: Wir sind auf der Strasse. Komm. Nun
hab ich Kraft für die Ewigkeit.
Vor dem Zimmer ein Schuss. Die Türe wird auf-
gehrochen. Soldaten dringen ins halbdunkle Zimmer
mit Laternen.
VIERTE SZENE
DER MANN UND DIE FRAU (auf der Strasse) : Ich
lebe 1 (Sie winden sich durch die Trümmer der Bar-
rikade, sehen sich schwankend in der St?-asse um):
Komm schnell. Leben! DIE FRAU: Komm, eh
das Wunder zerbricht! DER MANN: Leben! Für
die Menschen ! Nun hab ich Kraft auf ewig.
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FÜNFTE SZENE
Der Mann und die Frau [eilen ah) Noch ehe sie
die Bühne verlassen, treten Soldaten au^
SOLDATEN: Halt, wer da? DER MANN fzvr
Frau): Du schnell fort. Zum Scbiff. Ich werde frei!
(Zu den Soldaten): Was wollt ihr? (Die Frau eilt
nach der anderen Seite ah.) SOLDATEN: Ent-
wischt! Das Weil) ist uns im Dunkel entwischt!
Dafür haben wir den Kerl. (Sie packen den Mann
und schleppen ihn fort.)
SECHSTE SZENE
Der Offizier/ Später ein Soldat
DEROFFIZIER (im Zimmer): Wer hat sie ent-
wischen lassen?
SIEBENTE SZENE
EIN SOLDAT (stürzt auj): Wir haben ihn. Er wird
gefesselt abtransportiert.
Dunkel
ACHTE SZENE
In der Festung. Raum des Gouverneurs
Der Gouverneur / Klotz
DER GOUVERNEUR: Sie geben also alles zu.
KLOTZ: Ja. DER GOUVERNEUR: Wollen Sie
jetzt das Protokoll unterschreiben? KLOTZ: Ja.
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DER GOUVERNEUR: Sie werden nicht gedrängt.
Sie können es sich überlegen. KLOTZ: Ich habe
es schon überlegt. DER GOUVERNEUR: Es ist
gut, dass Sie sich so vernünftig benehmen. Wir
brauchen keine scharfen Mittel gegen Sie anzu-
wenden. KLOTZ: Die würden nichts nützen,
Herr Gouverneur. DERGOÜVERNEÜR: Seien
Sie nicht hochmütig. Ich kenne diesen Ton bei den
Untersuchungsgefangenen, er hört bald genug auf,
wenn es Ernst wird. Sie sind nicht der erste, mit
dem ich zu tun habe. KLOTZ: Ich weiss. Aber
ich bin nicht stolz.
DER GOUVERNEUR: Sehen Sie doch ein, dass
Ihre Handlungsweise unrecht war. Sie war aber
auch unsinnig. Ein Mann von Ihrer Intelligenz
hat nicht das Recht, unverständige Kreaturen
aufzureizen. Das werden Sie ja büssen. Aber ich
meine, Sie mit ihren Fähigkeiten könnten der
Gesellschaft wirkliche Dienste leisten. Ich sage
nicht, kommen Sie zu uns. Aber ich sage: lassen
Sie Ihre bisherige Tätigkeit. KLOTZ: Nein,
Herr Gouverneur. DERGOÜVERNEÜR: Glau-
ben Sie doch nicht, bei mir mit diesem Trotz
Achtung zu erregen. Das hat gar keinen Sinn.
KLOTZ: Nein, es hätte keinen Sinn. Es ist aber
nicht um zu imponieren, und es ist auch kein Trotz.
DERGOÜVERNEÜR: So, was ist es denn?
KLOTZ: Es ist mein Glaube. DER GOUVERNEUR:
Ihr Glaube? Aber sehen Sie denn nicht, dass er Sie
irregeführt hat? KLOTZ: Nein. DERGOÜVER-
NEÜR: Ja, so sind alle Fanatiker. Sie haben einen
Glauben, aber der andere hat keinen oder einen
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falschen! KLOTZ: Ich weiss. Auch Sie, HerrGou-
verneur, sind ein Mensch. DER GOUVERNEUR:
Lassen wir diesen Ton. — Ernstlich. Sehen Sie
mich an. So, wie ich vor Ihnen stehe — warum
meinen Sie denn, stehe ich hier, wenn nicht auch
ich meinen Glauhen hätte? KLOTZ: Nein, das ist
nicht der Glaube. Das ist die Macht. DER GOU-
VERNEUR: Die Macht, sagen Sie. Ja, ich habe die
Macht. Und der beste Beweis gegen Sie ist, dass
Sie sie nicht haben. KLOTZ: Nein. DER GOU-
VERNEUR: Ah, und warum haben Sie sie nicht?
Fehlte nur noch, dass Sie mir sagen, weil Sie sie
nicht wollen. KLOTZ: Ja, weil ich sie nicht will.
DER GOUVERNEUR: Nun schön. Ich lasse Sie jetzt
abführen. Ich sehe, ich habe mich zu weit mit Ihnen
eingelassen. Es ist immer wieder dasselbe : Sie und
Ihre Genossen glauben bei der geringsten mensch-
lichen Regimg von unsereinem das Recht zum Miss-
brauch zu haben. Es soll nicht mehr vorkommen.
KLOTZ: Macht, was ist das? Ihre Zentralheizung,
Ihr Telephon, Ihre elektrische Klingel, Ihre Be-
amten. DER GOUVERNEUR: Meine Beamten.
KLOTZ: Ihre Beamten — wie lange? Solange
Sie auf Ihrem Posten sind. Solange Sie leben. So-
lange Ihre Beamten leben. Übrigens, sind Sie
Ihrer Beamten sicher? DER GOUVERNEUR: So-
lange ich lebe, und solange die anderen leben.
Solange überhauptMenschen leben. KLOTZ: Ah,
und wieso stände ich denn hier vor Ihnen? Wie
kommt es, dass Sie und Ihre Organisation vergeb-
lich versuchen, meinen Mund zu schliessen? Seit
Jahrhunderten versuchen Sie das vergeblich.
i5
DERGOUVERNEUR: Vielleicht muss auch das sein.
Sie sind nur das dunkle Feld — ich sage nicht einmal :
die Gegenseite! — auf dem unser Bau reiner und
höher dasteht. Vielleicht sind Sie sogar nötig, um
unsere Macht leuchtender und bewusster zu ma-
chen. Aber das hindert nicht, dass wir Sie und Ihre
Kameraden aus der Welt schaffen. Und wissen Sie,
wer uns dabei am meisten zu Hilfe kommt? Sie
selbst. W^as wollen Sie? Sie wollen selbst die
Macht. In allen Ländern ist es das gleiche: Ihre
Freunde schreien so lange, bis sie sich emporge-
schrien haben. Schliesslich ist alles nur eine Per-
sonenfrage. Zufall, dass nicht Sie hier an meiner
Stelle stehen, sondern ich. KLOTZ: Wäre das so,
wie Sie sagen, dann hätten Sie nicht das Recht, an
dieser Stelle zu stehen. Sind Sie denn dafür, dass
in der Welt ein Mensch, besinnungslos vielleicht,
einen anderen Menschen beschimpft, oder quält,
oder krank macht, oder zuletzt mordet? Nein, da-
für sind Sie nicht. Sie sind auf Ihrem Posten, weil
Sie glauben, dass dadurch mehr Gerechtigkeit
herrscht. Sie vertreten die Gewalt, in Wahrheit, weil
Sie glauben, dass Sie dadurch der Güte dienen. Aber
Sie haben immer in einer einzigen fürchterlichen
Angst gezittert: Man könne Ihnen wegnehmen, was
Sie besassen. Toll vor Angst haben Siesich in den
Jahren Ihren Posten erarbeitet, mit Fleiss, mit Klug-
heit, mit Protektion, mit Energie. Sie haben heute die
Verfügung über Gefängnisse und Maschinenge-
wehre. Und Sie stehen inmitten Ihrer Macht und zit-
tern vor jeder Sekundelhrer Zukunft. Aber schon für
eine schwache Stimme, wie die meine, für einen
i6
Mann, den Sie und Ihre Auftraggeber mit einer
kleinen Vertilgung beseitigen können, müssen Sie
Ihre ganze Geistesgegenwart und Ihre Nervenkraft
zusammennehmen. Für uns Schwaclie müssen Sie
dieses grosse Haus hier mit dicken Mauern bauen,
Schildwachen davorstellen. Unablässig müssen Sie
«ine Armee von Spitzeln in Tätigkeit setzen, Sie
müssen die Marterschreie anderer Menschen erdul-
den. Ihr Leben vergeht in einem angestrengten
Unsinn. Ihre ganze Macht ist dazu da, dass Sie
Ihrer Angst vor sich selbst ewig neu preisgegeben
sind.
DER GOUVERNEUR: Ich höre Ihnen geduldig
zu und lasse Sie für Ihre Reden nicht bestrafen.
Sie sehen, ich gebrauche meine Macht sehr milde.
KLOTZ: Sagte ich denn, dass Sie, Sie, die Macht
haben? Sie selbst sind doch ein Werkzeug der
Macht, eine Sklave der andern sind Sie, wie die
Wächter draussen Ihre Sklaven sind. Wissen Sie
denn noch, wasder Mensch ist, wasLeben ist, wasFrei-
heit ist? Sie lassen die Menschen peinigen, foltern,
morden. Und Siehaben nur die Angst, daran zu den-
ken, dass die Schmerzen, das geronnene Blut und das
erstickte Leben der Gepeinigten und Hingeschlach-
teten Sie einmal anklagen wird bei der Menschheit,
anklagen vor dem Ende der Welt, bei allem an-
klage n, was in uns noch Menschlichkeit war —
und dass der Schrei der Gefolterten Finsternis in
Ihre Seele bringt und Ihnen das Herz aus dem
Leibe reissen wird. DER GOUVERNEUR: Warum
sagen Sie mir das? Erwarten Sie vielleicht davon Ihre
Freiheit? KLOTZ: Nicht von Ihnen. Wollen Sie
a Rnbincr, Die Gewaltlosen IJ
es wissen : Ich bin frei. Hier im Gefängnis. Sie
nicht. Sie haben alles zu verlieren, ich nichts. Ich
bin es, der zu schenken hat! DER GOUVERNEUR:
Sie schenken? KLOTZ: Das Geschenk des Men-
schen: die Freiheit. DER GOUVERNEUR : Ja,
mit Worten! KLOTZ: Wenn Sie wollen, mit der
Tat! — Wollen Sie! DER GOUVERNEUR. Was?
KLOTZ: Das Letzte. DER GOUVERNEUR: Und?
KLOTZ: Kommen Sie mit mir!
DER GOUVERNEUR: Sehen Sie sich um: Das
alles bin ich, dieses ganze Haus bin ich. Diese
Lampe hier brennt durch mich. Der Schritt des
Wächters, den sie draussen hören, geschieht
durch mich. Wäre ich nicht da, so griffe alles ins
Leere. Diese Mauern wanken. Das bröckelt in
einem INu zusammen, und an seinem Platz ist ein
Schutthaufen, auf dem Kinder und Hunde spielen.
KLOTZ: Sie sagen es: Kein Gefängnis mehr, son-
dern ein Schutthaufen, auf dem Kinder und Hunde
spielen . Durch Sie. Wunderbarer Tag ! D E R G O U -
VERNEUR: Aber ich darf nicht. KLOTZ: Dann
lassen Sie mich hier und gehen Sie allein.
DER GOUVERNEUR: Hier meine Hände, so leer
wie sie, ist mein Leben. Ich brauche ja nichts. Ich
bin allein. Ein Einzelner. Der Andere nach mir lässt
alles wie es war, und mein Sprung war nur für
mich. KLOTZ: Ah, ein Mensch nur, der den
Sprung tut, ein einziger nur, der sich ganz besinnt,
dass er Mensch ist: Und Sie haben alle Macht der
Welt vernichtet. Unüberwindlich wären Sie, ein
Keim, der durch die Luft fliegt, unsichtbar, all-
gegenwärtig durch alle Wände, und danach zer-
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fiele alle Gewalt der Erde wie eine schimmelige
Bude in der Feuchtigkeit. Sie sind der Mensch.
Sie sind: Wir alle. Und nur, der es wagen würde,
ahnungslos an Ihre Stelle zu treten und die Räder
der Macht weiter kreischen zu lassen, der wäre
ein Einzelner. Grauenhaft allein wäre der unter
den neuen Menschen, morsch, zum sicheren Sturz
ins tödliche Vergessen verurteilt, wie ein angefaulter
Telegraphenmast vom Wind gefällt wird. Die
Macht liegt hinter Ihnen. Sie sind frei. Sie wi^en,
dass Sie frei sind. Kommen Sie! DER GOUVER-
NEUR: Meine Macht? Dieses Schlüsselbund hier
auf dem Tisch ist meine Macht. Da ist der Schlüssel
zu meiner Wohnung. Hier zu meinem Schreib-
tisch. Der da zu diesem Zimmer. Und das ist der
Schlüssel zu den Verfügungen. Hier sind sie. Neh-
men Sie sie. Ich gebe sie Ihnen. Mit diesem kleinen
Stückchen von geschmiedetem Eisen befehlen Sie
der Welt. KLOTZ: Nehmen Sie die Schlüssel
zurück. Ich will sie nicht. Ich brauche sie nicht.
Ich befehle nicht.
DER GOUVERNEUR: Sie Stehen vor mir so weit,
dass ich nicht einmal die Arme nach Ihnen strek-
ken kann. Dieser Boden ist ein spitzes Gebirge.
Kann ich mich noch retten? KLOTZ: Sie sind
gerettet, Sie sind hinter dem Tod. Nun gehen
Sie. DER GOUVERNEUR: Ich bin frei. Ich
weiss es. Aber wohin gehe ich? KLOTZ: Zu den
Menschen. DER GOUVERNEUR: Wer ist das?
Ich bin ein Mensch, Sie sind ein Mensch. Ist es
nicht Übermut zu gehen? Ich bin geboren und
geschaffen in diese Welt hinein, in der ich gelebt
2* 19
habe. Wenn ich mit dir gehe, ist das nicht Lüge?
Ich befehle Armeen und gewinne Schlachten.
Die Sonne geht morgen auf, ich werde Armeen
von Menschen befehlen, und Menschen werden
von mir sich befehlen lassen! Ändert sich etwas?
Die Macht bleibt. Ich weiss zuviel von Menschen.
Ich bin allein. Ich bin kein Bruder.
KLOTZ: Nein. Du bist nicht mehr allein. Niemand
ist allein. Jeder von uns ist eine riesige, glühende,
rote Sonne im Weltraum, sie scheint mild und klein
hindurch in ein Krankenzimmer, und da erst weiss
man von ihr. Ah, ich fühle es: DieGewalt ist tot in
dir; aber du zitterst noch vor deiner Erkenntnis? O
strecke nur zum erstenmal die Hand aus, nicht
um zu befehlen, sondern um zu helfen. Wende
nur zum erstenmal den Kopf, nicht um zu richten,
sondern um zu führen. Du bist geboren von Milli-
onen Geschlechtern hervor aus dem Licht, um
ein wehender Mensch zu sein, ganz unter den
Menschen. Alles, was mit dir kam, und in dir
alles, was Erkenntnis weiss, schwingt sich durch
das Blut deiner Adern in deinen Handgriff, mit
dem du hilfst. Du warst einsam; aber dein Wissen,
das dich trennte, springt unter den Menschen um
in Tat. Wir alle werden unter den Menschen-
brüdern sein, keiner mehr gross, keiner mehr
klein. DER GOUVERNEUR: Wohin? Wohin?
KLOTZ: In unser Reich. Wir bauen mit Dir die
neue Erde. Bruder! Wir warten auf dich. DER
GOUVERNEUR: Ihr wartet auf mich? KLOTZ:
Ja. In Freiheit, in Liebe, in Gemeinschaft. Die
ganze Menschheit zu befreien! Wirf deine Knecht-
Schaft von Dir, sei frei — frei! Mensch, der du in
Wahrheit hist! Stosse die Angst von dir! Hilf der
Menschheit. Du unser Bruder ! DER GOUVER-
NEUR: Mensch sein. — Bruder. — Ich gehe
mit dir!
Dunkel
NEUNTE SZENE
Gefängnis. Eine Bank, auf der zwei Wachtet- der
Gefangenen sitzen
Erster Wächter / Zweiter Wächter / Später
der Mann
ERSTER WÄCHTER: In den Zellen geht etwas
vor. Da ist nicht alles in Ordnung. ZWEITER
WÄCHTER: Es ist alles ruhig. Ich habe eben noch
einmal inspiziert und durch die Türen gesehen.
Was sollte auch geschehen? Wir haben das neue
Alarmsystem. Es kann gar nichts vorkommen.
ERSTER WÄCHTER: Es geht etwas vor seit die
neuen Gefangenen da sind. Wenn man zwanzig
Jahre Dienst in der Festung tut, fühlt man es am
Rücken, ob etwas nicht in Ordnung ist. ZWEI-
TER WÄCHTER: An deinem Rücken spürst du
das? Die Kerle sollen es an ihrem Rücken spüren,
wenn sie sich unterstehen ! ERSTERWÄCHTER:
So etwas sagt man hier nicht. ZWEITER
W- Ä C H T E R : Wusste nicht, dass ich in einem
Jungfernstift bin. ERSTERWÄCHTER: Grün-
ling! Bei uns heisst es: Kein Wort mit dem Mund^
aber alles mit dem Gummiknüppel. ZWEITER
WÄCHTER: Habt ihr noch mehr von solchen
21
Bibelsprüchen ? ERSTERWÄCHTER: Wir schla-
gen nie. Der Gefangene hat sich immer gestossen.
ZWEITER WÄCHTER: Kenn ich vom Irrenhaus
her: Der Patient kommt in Gummi, der kann kein
GHed mehr rühren, auch wenn die Ohrfeigen von
selbst kommen; nur noch schreien, und das hört
keiner. Wenigstens uns hat das Schreien noch nie
beim Essen gestört. ERSTER WÄCHTER: Wir
sind hier nicht im Irrenhaus, junger Mann. Das
hier ist eine anständige Festung. Da schreit keiner,
denen ist das Schreien schon längst vergangen.
Wenn da so eine feine, blanke Haut von draussen
kommt, wo wir sehen, der hält nicht still ; so einer
wird gleich in eine Ecke gesteckt, wo ihm monate-
lang im Dunkel das Wasser von den Mauern über
die Knochen rieselt. ZWEITER WÄCHTER: Und
wenn er euch krank wird? ERSTER WÄCHTER:
Soll er ja auch, du Anfanger! Ich geh gewiss nicht
im Pflegerkittel zu ihm. So einen haben wir bald
mürbe.
ZWEITER WÄCHTER: Du sagst aber selbst,
dass in den Zellen etwas vorgeht! ERSTER
WÄCHTER: Das ist was andres. Das spür ich.
Vor zwanzig Jahren, als ich den Dienst antrat,
hab ich es schon mal so gespürt. Damals haben
wir ein halbes Dutzend mit unseren eigenen Hän-
den still machen müssen. Die andern wurden an
der Mauer von den Posten abgeknallt. Der letzte
bekam's so, dass er bald am Schädelbruch starb.
Seitdem heisst es, man soll nicht mehr schlagen.
ZWEITER WÄCHTER: Weiss schon. Heute haben
wir gebildetere Zeiten. ERSTER WÄCHTER: Du
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meinst, weil der Sträfling photographiert wird?
Ich spür's doch im Rücken, dass etwas vorgeht, ich
spür's viel stärker als damals; zwanzig Jahre lang
war hier ein so stilles Leben, und heute ist mir
auf einmal, als ob die Steine aus den Wänden
fliegen und die eisernen Türen von Pappe sind.
Ich bin gar nicht sicher.
ZWEITER WÄCHTER: Mach doch eine Meldung.
ERSTER WÄCHTER: Ich kann's nicht beweisen.
Dann heisst es nur, ich bin zu alt zum Dienst gewor-
den. ZWEITER WÄCHTER: Wie lang muss ich
Dienst machen , um deinGehalt zu kriegen ? ERSTER
WÄCHTER: Für dich, mein Jüngelchen, aus dem
Amt fliegen? Und was soll meine Frau und meine
Tochter machen? ZWEITER WÄCHTER: Wie
alt ist deine Tochter? ERSTER WÄCHTER: Und
dann ist noch das Kind da; das Dreinschlagen nützt
nichts, die Weiber wollen ihr Leben haben.
ZWEITER WÄCHTER: Wenn aber deine Tochter
heiratet, dann bist du doch versorgt, ERSTER
WÄCHTER: Der Kerl, von dem das Kind ist, der
ist längst über alle Berge. Heiraten ? Auf dem Halse
habe ich sie, und ich habe doch in meinem Alter
so sehr meine Ruhe verdient. ZWEITER WÄCH-
TER: Ich muss gleich wieder Runde machen.
Wenn du meinst, dass in den Zellen nicht alles in
Ordnung ist, will ich den Revolver mitnehmen. —
Kannst du nicht einen jungen Mann für deine
Tochter brauchen? ERSTER WÄCHTER: Das
heute ist kein Revolvertag, ich weiss das. Du
willst meine Tochter heiraten ?
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ZEHNTE SZENE
Während die Wächter weiter sprechen, erscheint
hinter der Giltertiir der Zelle der Mann.
Der Mann hinter den Gittern in Ketten
ZWEITER WÄCHTER: Wieviel Gehalt kriegst
du? ERSTER WÄCHTER: Wenn du Anna hei
ratest, das ist was anderes; da kommst du einmal
an meine Stelle. ZWEITER WÄCHTER: Und
das Rind von deiner Tochter? ERSTER WÄCH-
TER: Ich lege ein Wort für dich heim Gouverneur
ein. ZWEITER WÄCHTER: So alt das Kind ist,
soviel Dienstjfihre krieg ich von deinen. ERSTER
WÄCHTER: Ich muss jetzt in den Keller, wo der
Sträfling an die Mauer gekettet steht, seine acht-
undvierzig Stunden sind abgelaufen. ZWEITER
WÄCHTER: Der wird nicht über heisse Füsse
klagen.Du gehst morgen zumGouverneur? ERSTER
W^ÄCHTER: Wenn du ernstlich einheiraten willst,
gehe ich zum Gouverneur.
DER MANN: Gouverneur! Wo ist der Gouverneur?
Ich will nicht länger. ERSTER WÄCHTER (zum
zweitenj: Hol mir die Schlüssel, ich muss die Ket-
ten aufschliessen. ZWEITER WÄCHTER: W^ie-
viel hast du in Ketten? ERSTER WÄCHTER : In
jeder Rellerzelle einen.
DER MANN: Die Ketten ertrag ich nicht länger.
Ihr sollt mich haben. Ich bin ein einfacher Mensch.
Die Augen, die durch die Gittertüre grinsen. In
der Nacht krachen die Ketten an mir wie Stücke
Eis. Ich will alles sagen, was ihr haben wollt. Ich
bin fertig. Ich mache nicht mehr mit. Wenn ihr
mich leben lasst, werde ich Schreiber. Ich werde
Hausierer, Ich werde Knecht. Ihr könnt mich
schlagen. Fragt mich. Fresst mich doch aus. Ihr
könnt alles wissen. Ich will frei sein. ZWEITER
WÄCHTER: Wie frei der Kerl hier schreien darf!
Müsste ihm das Maul stopfen . ERSTERWÄCH-
TER: Das ist noch nichts. Am Anfang beginnt's
immer so mit Kleinigkeiten. Aber wenn er erst
gegen uns tobt, dann ist's Zeit, ihn zum Schweigen
zu bringen, dass er jahrelang noch Schmerzen
spürt, wenn er nur von einer Wächterjacke träumt !
DER MANN: Ihr verfluchten Hunde, lasst mich
frei. Ihr Marterschweine, die Ketten herunter ! Ihr
Lumpendreck, der stinkende Teufel hat euch aus-
geschissen, ihr tierisches Spitzelpack, ihr seid nie
Menschen gewesen, als Jsägel, als Peitschen, als
Ketten seid ihr geboren, darum quält ihr Menschen!
Ich spucke euch an, foltert mich; schliesst mir den
Mund, ich kotze euch doch an. Stecht mir die Augen
aus, und wenn ihr sie schon tot an die Erde ge-
schmissen habt, werden sie sich noch unter eurem
Fuss vor euch ekeln! ERSTER WÄCHTER; Er
beginnt. Jetzt ist's Zeit. Hol die Schlüssel. Nimm
die Gummiknüppel mit. Auch den Knebel, es
brennt mehr wenn er nicht schreien kann. Bring
auch meine Tochter mit dem Kinde mit, es macht
der Kleinen immer Spass, wenn wir einen An-
fanger vornehmen. Es soll ja eigentlich nach der
Vorschrift nicht sein, aber bei der Art Gefangenen
erfahren die Herren doch nie, was wir tun ! Mach
schnell, die Sachen sind in meinem Zimmer, sag's
meiner Tochter. ZWEITER WÄCHTER: Der
a5
sieht bald, wie ihm ohne Ketten zumute wird.
Wusste nicht, dass ein Spass für das Mädel dabei
ist. ERSTER WÄCHTER: Eil dich!
Zweiter Wächter ah
ELFTE SZENE
Vorige ohne den zweiten Wächter
DER MANN: Aus. Nun ist keine Hoffnung mehr.
Ich war schwach, habe sie beschimpft. Die Gitter-
stäbe sind ganz schwarz und fest da; erst waren
sie fast durchsichtig, dass ich glaubte, ich könnte
nur durch sie hindurchgehen, wenn die Ketten
hart wären. Es ist so trübe, früher zischte ein
blaues Licht hinter mir. Als ich schwach wurde,
flammten ihre Jacken auf wie gelber Dampf. Das
Leben ist vorbei. Meine Knochen werden in der
Dunkelheit zerkracht werden, mein Fleisch wird
mir heruntergefetzt, ich werde hier wie ein blin-
der Wurm mich zu Tode zucken. ERSTER
WÄCHTER: Es ist zu spät, zu bereuen. DER
MANN: Bereuen ? Welches Wort. Ich bereue nicht,
denn ich war es nicht, es war die Dunkelheit, ich
hatte alles an mir vergessen. ERSTER WÄCH-
TER: Seit ich in der Festung bin, höre ich von
jedem Sräfling dieselben Worte. Der Mensch än-
dert sich nicht. DER MANN: Der Mensch ! Wo
war ich? Der Mensch. Ich vergass. Der Mensch
ändert sich nicht. Ich war es nicht, der gegen euch
schrie. Ich ändere mich nicht, ich bin immer vom
Licht geboren. Dieses Gefängnis hat gegen euch
geschrien, die Stäbe, die zerpressenden Mauern,
26
die Ketten. Ihr werdet das Gefängnis foltern. Ich
bin der Mensch und ich lebe für den Menschen.
Das Gefängnis ist tot und morsch. Ich habe dir
nichts Böses gesagt, Wächter, die Mauern hier
haben dich beschimpft. Du bist ein Weiser, du
warst gütig; du hast recht: der Mensch ändert
sich nicht. Du bist es nicht der mich quält, du hast
mich nicht zum Hass gereizt. Du bist ein Mensch.
Das war das Gefängnis um dich. Du wirst mich
nicht foltern, du verkaufst deine Tochter nicht
dem andern, du nicht. Das Gefängnis. Die gelben
Flammen eurer Jacken, die Dunkelheit um euch,
du nicht, du bist Mensch. ERSTER WÄCHTER:
Schweige. Reden wird bestraft.
D E R M A N N : Ich verstehe. Oh, nun kommen wieder
helle Lichter um mich. Ja, schweigen in sich, sich
sammeln. Nicht dem Munde entlassen, was tot ist
und nicht vom Menschen kommt! Welche neue
Ruhe um mich. Diese Ketten tönen an mir wie Sei-
dengerausch. Wächter, ich sehe jetzt dein Gesicht,
deine Backenknochen, deine Augen. Dein Kleid ist
nicht mehr gelb; ich sehe alles; es ist sanft und
hell um mich, Wächter! ERSTERWÄCHTER:
Ich antworte nicht mehr. DER MANN: Du bist
ein Mensch wie ich, nicht niedriger als ich. Du
brauchst dich nicht zu rächen. Du hast deinen
Willen wie ich; du brauchst nur Antwort zu wol-
len. Warum gibst du deine Tochter dem anderen
Wächter? ERSTER WÄCHTER: Will versorgt
sein. - — Aber das geht dich nichts an! DER
MANN: Nein, es geht mich nichts an, du hast
recht. Es geht deine Tochter an; weisst du, wenn
27
sie will, könnte sie eine feine Dame sein. ERSTER
WÄCHTER: Hat schon ihr Kind von der Feinheit.
DER MANN: Eine grosse Dame, eine Gräfin, eine
Prinzessin, eine Fürstin! ERSTER WÄCHTER:
Wir sind arme Leute, nicht einmal wenn Urlaub
ist, kriegen wir grosse Damen zu sehen. DER
MANN: Aber ihr seid Menschen, man vergisst das
mitunter. Du brauchst nur zu wollen. Den festen
Willen haben, dann kommt alles. Ich will auch.
ERSTER WÄCHTER: Nützt dir nichts. Was
kannst du machen? DER MANN: Viel, Nachbar;
höre, warum hast du keine Auszeichnung auf
der Brust? ERSTER WÄCHTER : Unsereiner hat
noch Jahre zu dienen, ehe er die Medaille kriegt.
DER MANN: Medaille — nein. Ich könnte dir ei-
nen Orden verschaffen, einen schönen Orden, zwei-
ter Klasse für Ehrendienste. ERSTER WÄCHTER:
Einen Orden — ohne dass ich auf Krücken ginge?
DER MANN: Du brauchst nicht auf Krücken zu
gehen. Du sollst deine geraden Glieder haben als
richtiger Mensch. Deine Tochter bekommt einen
vornehmen Mann. Du brauchst nicht mehr in den
feuchten Gängen im Dunkel zu leben. Ihr lebt wie
Menschen, im hellen Licht, unter Menschen, in
der Freiheit. ERSTER WÄCHTER: In der Frei-
heithabeichlangenichtmehrgelebt. DER MANN:
Aber ich. Ich kenne sie. Ich lebe für die Freiheit.
Kamerad, ich befreie dich! ERSTER WÄCHTER:
Freiheit, o das habe ich schon seit Jahren verges-
sen. Man brauchte nicht Dienstberichte mehr ab-
zufassen. Niemand war, der mir kommandierte.
Leben unter feinen Menschen. Man könnte ganz
28
von vorn anfangen, als wenn man jung wäre. DER
MANN: Du bist jung. Wer von vorn anfängt, ist
jung. ERSTER WÄCHTER: Aber du bist ja selbst
nicht frei! DER MANN: Ah, ich nicht frei? Schau
zu mir herein, was siehst du? Siehst du meine
Ketten? Nein, du siehst meine Augen, die umher-
gehen, wie sie wollen. Du siehst meinen Mund,
der zu dir spricht, die Lippen, die Zähne, die
Zunge; meinen Kopf siehst du, der jahrelang für
dich gedacht hat! Ich sage dir, Kamerad, Bruder,
erinnere dich, dass du ein Mensch bist, wie ich.
Sei frei! ERSTER WÄCHTER: Und meine Frau,
meine Tochter und das kleine Kind? DER MANN:
Lass sie. Geh, schnell. Du hast Jahre Zeit gehabt,
nun ist die Stunde für dich gekommen, lass sie
nicht vorbeigehen. Sie kommt auch für die andern.
Kümmere dich zuerst um dich.
ERSTER WÄCHTER: Bruder, was soll ich tun?
Ich weiss, das Leben ist nun anders für mich. Ich
will keinen Orden. Ich will dir helfen. DER MANN:
Hilf mir nicht, hilf dir, Bruder. ERSTER WÄCH-
TER: Bruder, sag das Wort ! Ich bleibe, was ich bin.
Ich schaffe dich aus dem Gefängnis. DER MANN:
Nein, ich bleibe. Gehe du, schnell, eh die andern
kommen! Hinaus, eil dich, für immer aus der
Festung, zu den Brüdern. Sie brauchen neue
Menschen, hilf ihnen. ERSTER WÄCHTER:
Freund, nimm diesen Händedruck von mir, ich
bin ein alter Mann. Wo sind sie? DER MANN:
In deiner Hand pulst ein Siebzehnjähriger. Draus-
sen wartet das Schiff auf die neuen Menschen.
Ich weiss, heute nacht geht es aufs Meer. ERSTER
29
WÄCHTER: AufdasSchifflUnddu? DER MANN:
Ich bleibe. Ich gehe nicht eher, als diese Mauern
vor meinem Mund in Freiheit zerwehen. Geh, du
musst!
ERSTER WÄCHTER: Das Blut stürzt durch mich,
als wäre ich über Äcker und Flüsse gesprungen.
Ich will! Zu den Brüdern! aufs Schiff! (Ab)
DER MANN: Grosse helle Wölbung Licht strahlt.
Lichtschalen schweben um mich her. Eine blaue
sanfte Flamme rollt durch mein Blut. Durch die
Mauern brennen meine Augen Licht wurf. Dieses
Haus ist weiches Glas.
ZWÖLFTE SZENE
Der Mann / Der zweite Wächter
ZWEITER WÄCHTER (Äommf): Hier dieSchlüssel^
deine Tochter bringt die Buckeljucker. DER
MANN: Zu spät. Wir sind allein. ZWEITER
WÄCHTER: Maul gehalten endlich. Straf hnge!
Wo bist du, Alter? DER MANN: Was nützen
deine Folterwerkzeuge. Wir sind allein. ZWEI-
TER WÄCHTER: Still. Der Alte kommt gleich;
dann vergeht dir das Geschwätz. DER MANN:
Der Alte ist fort, für immer. ZWEITER WÄCH-
TER: Was heisst das? Du bist fest, in Ketten, du
hast ihn nicht erschlagen. Wo ist er? Im Hause
geht was vor. Meuterei! DER MANN: Freiheit.
Er ist in die Freiheit! ZWEITER WÄCHTER:
Zu Hilfe! DER MANN: Niemand hilft dir. Du
kannst dir nur selbst helfen. ZWEITER WÄCH-
TER: Was soll ich tun? Ich steh unter seinem
3o
Befehl? DER MANN: Befiehl dir selbst. Was
willst du? ZWEITER WÄCHTER: Ich kann nicht.
Ich weiss nicht wohin. Wenn der Gouverneur
kommt, werde ich davongejagt. DER MANN:
Dann bist du frei. ZWEITER WÄCHTER: Ich
kann nicht. Ich sollt seine Tochter kriegen; feste
Anstellung, doppelte Dienstjahre. Ich verhungere.
Was soll ich denn machen. DER MANN: Halte
dich an die Menschen. ZWEITER WÄCHTER:
Ich kenne keine. Vielleicht bist du ein Mensch.
Vielleicht kannst du helfen. Sträfling, hilf mir!
DER MANN : Du musst die Tochter lassen. ZWEI-
TER WÄCHTER: Mir ist sie gleich, die Hure. Sag
nur, was ich tun soll! DER MANN: Du bist jung.
Du hast Kraft. Draussen vor der Stadt warten die
Kameraden im Schiff. Geh zu ihnen. ZWEITER
WÄCHTER: Ja, ich gehe. Ich tue alles, was du
sagst. Aber wem soll ich da gehorchen? DER
MANN: Du sollst keinem Menschen gehorchen, nur
dir. ZWEITER WÄCHTER: Ich kann nicht. Ich
muss meinen Befehl haben. — Gleich kommt die
Tochter, dann weiss ich nichts mehr. Ich schliesse
deine Zelle auf, ich nehme deine Ketten ab. Schnell,
komm mit mir. Sag, wohin! DER MANN: Nein.
ZM^EITER WÄCHTER: Ich flehe dich an, komm
mit mir. DER MANN : Nein. ZWEITER WÄCH-
TER: Komm mit mir, du bist frei, du sollst nicht
mehr gefangen sein. Hier sind die Schlüssel. Ich
halt es nicht inehr aus, das Haus erwürgt mich.
Rette mich! DER MANN: Besinne dich, du bist
ein Mensch, du bist frei. Hast du eine Mutter?
ZWEITER WÄCHTER: Nein, was fragst du? Ich
3i
kann nicht mehr! Ich hab sie erschlagen, als ich
zu den Soldaten ging, niemand weiss es. Oh, die
Schlüssel brennen wie glühend in meiner Hand,
weg mit ihnen! Verdammt, warum bin ich je her-
geraten! DER MANN: Aufs Schiff, in das neue
Leben, die Kameraden helfen dir. ZWEITER
WÄCHTER: Es ist aus; die Tochter kommt! DER
MANN: Fort mit dir. Vergiss diese Festung. Laufe!
Schnell in die Freiheit, unter Menschen, in ein
neues Leben. ZWEITER WÄCHTER. Menschen!
Hilfe! Menschen! (Ah).
DREIZEHNTE SZENE
Der Mann / Später Anna mit dem Kind.
DER MANN: Und nun, Wunder, sei hei mir. Licht
strahle aus mir. Lass diese Eisen an mir ver-
brennen, wie die Jahre im Hauch der Erde.
Die Tochter des Wächtei's, Anna, kommt mit
dem, Kinde an de?- Hand.
ANNA: Wo seid ihr, Lumpenkerle? Jämmerlinge
sind diese Männer. In der Festung rumorts, und
ihr seid nicht zu finden, habt euch verkrochen
wie die Schnecken, damit keiner von euch dafür
einsteht! DER MANN: Sie sind fort! ANNA:
Fort? Was für eine zimperliche Stimme. Bist du
das, Sträfling, hast du schon dein Teil gekriegt,
komm ich zu spät? DER MANN: Die Wächter
sind fort. ANNA: Was soll das ? Warum ist keiner
hier? Ich will mein Leben haben! Seit Tagen spitz
ich drauf, dass der Alte dir den Buckel vollschlägt.
Soll ich vielleicht an den Gitterstangen rauf und
32
runter mischen? DER MANN: DeinKind! ANNA:
Das Rind? Sieht oft {^eniig zu. Wo sind die andern?
DER MANN: Frei. ANNA: Was redest du da sinn-
los? DER MANN: Am Boden liejjen die Schhissel!
ANNA: Die Sclilüssel. Wer hat sie hingeworfen?
DER MANN: Dein Bräutigam. Er ist fort. ANNA:
Bräutigam? Der Weichhng. Wo ist mein Vater? —
Aber was frag' ich dich, den Straf hng? DER
MANN: Dein Vater ist mein Kamerad, mein Bru-
der. Unter die Menschen, Kameraden. In ein neues
Leben. In die Freiheit. ANNA: In die Freiheit?
Der alte Narr. Keiner mehr da: warte einmal, dich
will ich mir schon holen. — Da die Schlüssel. Ich
mach dir jetzt auf. Hast du Hunger, oder bist du
schon mürbe geworden im Keller? DER MANN:
Mach meine Zelle nicht auf. ANNA: Ho, du wärst
ja der erste Sträfling, der gefangen bleiben wollte.
DER MANN: Ja, ich will bleiben, geh! ANNA:
„Geh"!? Wohin denn? Vielleicht zu den andern?
Hab ich nicht nötig. Hab an mir genug. KIND:
Mutter, an mir! ANNA: Schweig, Fratze. Sei froh,
dass du überall dabei bist! KIND: Mutter, hier
ist es nicht lustig. DER MANN: Da liegen die
Schlüssel. Die andern sind fort, selbst der Gouver-
neur ist fort. Wir sind die einzigen. ANNA: Sie
sind toll geworden. DER MANN: Nein, nicht toll.
Sie sind frei. DAS KIND: Mutter, hier ist ein
Schlüsselbund. Horch nur, wie schön das klingelt!
DER MANN: Dein Kind hat die Schlüssel. Das
ganze Haus ist in deiner Macht. ANNA: In meiner
Macht? (Das Kind klingelt mit dem Schlüsselbund.)
Ich habe noch nie Macht gehabt, was kann ich
3 Rubiner, Die Gewaltlosen 33
damit tun? — Ha, ich weiss, du willst heraus! —
O ich kenne die Menschen. DER MANN: Ich will
nicht von dir befreit sein. Ich will dich befreien!
ANNA: Mich befreien! (Das Kind klingelt.) Was
soll ich damit. Ich kenne nur Lust, und ich kriege
jeden Mann, den ich will, es sind genug an die
Mauer geschlossen. Es ist alles nicht wichtig, und
nachher ist alles wie es immer war. DER MANN:
Doch, es ist alles wichtig. Es bleibt nicht, wie es
war. Du hast die Macht. Du kannst davongehen
und alle Gefangenen im Hause verhungern lassen.
ANNA: Es kommt vielleicht nicht mehr darauf an.
Wir haben sie schon halb tot gequält. DER MANN:
Aber du kannst auch fortgehen, Feuer an das Haus
legen und die Schlüssel hineinwerfen! ANNA:
Das will ich nicht.
DER MANN: Sieh auf diese Schlüssel. Sie sind hell.
Ein Licht geht von ihnen aus. Jeder ist eine kleine
blaue Flamme. Das kommt aus uns und das geht
wieder zu uns zurück. Alle Menschen, die einmal
geliebt haben, haben ihren Hauch in diese Gefäng-
nisschlüssel geschickt. Sieh, wie es um sie strahlt.
Du hast dein Leben in den Folterkellern verbracht,
du kennst die Menschen im Dunkel, du sahst auf
ihren Gesichtern nur Gewalt. Du hast nur die
Angst und die Gier gesehen. Aber als du dein Kind
bekamst, in der Nacht, im dunkelsten Schlaf, in
deinen Träumen, da wares bei dir hell, du wusstest,
dass du auch geliebt werden kannst; bei dir stand
ein strahlender, schöner Mensch in weissem Licht,
den hast du geliebt, für den warst du da. Der war
in dir. Und nur am Tage fandest du die Gemein-
34
heit in den Gefängniskellern. Dein Leben, wenn
du bei dir warst, wenn du ruhtest, dein Leben in
dir: war Liebe und Helligkeit. Du warst geliebt.
Du kannst helfen! ANNA: Helfen! (Das Kind
klingelt mit den Schlüsseln.) DER MANN: Hilf! Du
wirst den andern helfen, allen. Diese Schlüssel,
dieses kleine klingende Blinkfeuer weht die Ge-
fängnisniauern um ! ANNA: Helfen. — Ich. —
Mir ist so sanft. Wer bin ich? Ich bin ganz allein.
Ich schwebe hinauf, ich fliege, ich bin so leicht.
Um mich ist nur weisses Licht. Ich will hinaus in
das Licht, hinauf. Ich bin nicht mehr allein. Sie
schweben alle in dem Licht; der Alte schwebt da
mit dem langen Bart, den sie dreimal in der Woche
hun(;ern lassen. Über mir — der hält mir die
Hände entgegen, goldene Flammen — der Ge-
schlagene, den sie an die Mauer gekettet haben.
O, da bist du, ganz hoch oben, ganz weit, du, du
\Ninkst mir, du bist zu weit, ich kann nicht zu
dir kommen, hilf mir, du — DER MANN: Ich
bin dir nah ANNA: O habe ich dich gesehen?
Habe i( h dich geliebt? Liebe ich dich? Bist du es?
DP:r MANN: Nein, nicht ich. Alle. Du bist auser-
wählt. Dein Leben wird Aufscheinen unter den
Menscht-n sein. Hilf ihnen! ANiNA: Ich bin ganz
neu. Ich habe das nicht gewusst. Was ist das in
mir? DER MANN: Freiheit. ANNA: O ich bin
dir ganz nah, ich könnte durch dich hindurch-
gleiten, verschwinden um dich, über dir, unter
dir, um die h sein. Ich könnte dein Bett, deine Bank
sein, deine Wand, dein Gitter, deine Ketten, deine
Zelle, das Haus um dich. Das alles ist fort. Ich
3» 35
sehe nichts mehr, nur Licht, auf und ab und
schwebende Menschen drin. — Freiheit! — (bricht
zusammen.) Das Kind klingelt lange mit den
Schlüsseln.
DER MANN: Freundin, Schwester, Kameradin!
Hilf ihnen! ANNA: Wohin? DERMAN.N: Auf
das Schiff. In das neue Leben. Die Brüder warten.
ANNA: Und du? DER MANN: Erst sie! Befrei-
ung, alle, sie warten jahrelang! ANNA: Freiheit.
O Freiheit für die Menschen! Und dass ich meine
Augen und meine Hände und meinen Leib habe,
ihnen zu helfen! Ich gebe ihnen die Freilieit, ich
Arme! Aber sind sie nicht begraben und vermodert
und vergessen? Zu Hilfe, o her zu mir, zur Frei-
heit! (Ah)
VIERZEHNTE SZENE
Der Mann / Das Kind
DAS KIND (lässt die Schlüssel /allen): Die Mutter
läuft in die Keller hinunter. Hörst du wie sie an
den Türen schreit? Ich will mit! DEK MANN:
Nein, bleibe hier. Die Mutter will, dass du bei mir
bleibst. DAS KIND: Hörst du, wie sie unten
schreien? Ich habe Angst. DER MANN: Hast du
oft Angst? DAS KIND: Nein sonst nie. DEK MANN:
Du brauchst auch jetzt keine Angst zu haben. Ich
bin ja hei dir. DAS KIND: Du bist aber ein Ge-
fangener! DER MANN: Nein, nicht mehr! Hörst
du, sie haben aufgehört, jetzt ist es ganz still.
DAS KIND: Ich glaube, ausser uns beiden ist nie-
mand mehr da. DER MANN: Mein Kind, das ist
36
die Freiheit. DAS KIND: Wasist das, die Freiheit?
DER MANN: Die Mutter wird es dir sagen. Nimm
die Schlüssel und schhesse hier auf. (Das Kind
sc/iliesst die Zelle auf ) D A S K I N D : Führst du mich
auch zur Mutter? DER MANN: Ja, ich führe dich
zur Mutter. Nun wirst du bald mit vielen lustigen
Menschen spielen, willst du? Wir gehen mit deiner
Mutter auf ein ganz grosses Schiff, schönes Schiff.
DAS KIND: Ich war noch nie auf einem Schiff.
DER MANN: Nun hier noch den kleinen Schlüssel
für die Ketten. Mein Kind, du hast das Wunder
gesehen ! (Die Ketten fallen ab.)
Dunkel
FÜNFZEHNTE SZENE
Das Schiß am Hafen
N a u k e am Landungssteg geht als Posten hin und her.
(n A ü K E in teils zu lueilem, teils viel zu kurzem An-
zug mit sehr kleinem Kinderkragen.) N A U K E : Auf —
ab. Auf — ab. Kehrt! Nauke auf Wache! Was sag
ich: Wache? Revolutionsposten! Eine Ehre, Nauke»
eine Ehre, das bitt ich mir aus! Das hätt auch nie-
mand gedacht! In dieser Zeit hat jeder Posten den
Präsidenienstuhl im Tornister. Präsidentenstuhl?
Ein ganz gewöhnlicher Lehnsessel war mir jetzt
lieber. (Gähnt.) Auf — ab. Auf — ab. Kehrt! Ver-
dammt kalt! Orossartige Revolution — und nicht
einmal einen Tropfen zu trinken! Aber, aber, aber
Nauke! (schlägt sich auf den Mund, sieht sich um)
wenn das nur niemand gehört hat! Na, wartet nur,
3?
wenn ich erst mal dran bin, dann wird ein Fäss-
chen aufgeschlagen, ein Fässchen, — mit einem
Wort: ein Revolutionsfässchen! . . . Auf — ab.
Auf — ab. Ich hoffe doch, so wirds nicht weiter
gehen, sonst könnt mir die ganze Revolution ge-
stohlen . . . (fährt zusammen, sieht sich ängstlich
um, klopft sich wieder auj den Mund): Gesegnet sein,
natürlich gesegnet sein, Nauke! — Das ist öde hier.
Da wird einem so schön gesagt: „Du erwartest die
Brüder" — und dann kommt keiner. Nicht einmal
die Schwestern, die kleinen Schwestern! Hätt ich
nur was zu trinken, dann könnt ich meine Revo-
lutionsrede ebenso gut halten, wie die Andern. Ich
glaube, den beliebten Ton treff ich herrlich. In
der Art: „. • . Brüder, Schwestern, Eure Zukunft
liegt auf der Liebe!" Wunderschön! Es geht, es
geht, Nauke! Du wirst deinen Weg machen!
Ayn Hafen vor dem Landungssteg nähern sich Klotz
und die Frau
SECHZEHNTE SZENE
Nauke / Später Klotz / Die Frau
NAUKE: Es ist schon Morgen. Und ich bin immer
noch trocken. (Bemerkt die Beiden, nimmt fVürde
an:) Halt, wer da? Ah, ihr seid es ! Wo bleiben die
Kameraden? KLOTZ: Sie müssen kommen, sie
haben das Zeichen gegeben. NAüKE: Bist du
sicher, dass sie frei sind? Wir können nicht mehr
warten. DIE FRAU: Nur noch einen Augenblick
Geduld! Ich möchte auch lieber mit Euch auf ho-
38
her See sein, uns brennt die Polizei am Nacken.
N AUKE: Wenn wir so lange warten, bis die erste
Runde kommt, sind wir verloren. Dann merken
sie, dass wir die Offiziere eingeschlossen haben.
DIE FRAU: Ihr habt sienichtumgebracht? KLOTZ:
Das hat keiner von uns beschlossen, NAÜKE:
Da kommt ihr! Schnell; letzter Augenblick!
SIEBZEHNTE SZENE
Vorige / Der Gouverneur
Der Gouverneur kommt
DER GOUVERNEUR: Sindalleda? NAUKE: Nein,
aber wir können nicht länger warten, sonst sind
wir entdeckt. DER GOUVERNEUR: Wir müssen
auf die Kameraden warten! Wir müssen die Ge-
fahr auf uns nehmen. DIE FRAU: Wir sind ver-
loren, da sind schon Leute, die nicht zu uns ge-
hören.
ACHTZEHNTE SZENE
Vorige / Der alte Mann / Der Junge
Der alle Mann und der Junge von der St7^asse sind
gekommen und streichen umher
DER JUNGE: Matrose, hast du nicht 'ne Zigarette,
mir stehen die Augen aus dem Kopf, habe schon
so lange nichts mehr im Magen. DER ALTE MANN:
Lasst mich doch mal einen Augenblick sitzen, ich
geh schon seit Tagen ohne Obdach, mir ist es so
kalt. NAÜKE: Verboten. Niemand darf an Bord.
NEUNZEHINTE SZENE
Vorige / Der erste Wächter / Der zweite
Wächter
Der erste Wächter verwii^rt auf der Flucht y
läuft auf das Schiß zu, hinte?- ihm der zweite
Wächter
ERSTER WÄCHTER: Kameraden? NAUKE: Wo-
hin? ERSTER WÄCHTER: Ins neue Leben.
ZWEITER WÄCHTER (erreicht ihn): In die Frei-
heit ! NAUKE (macht Platz): Eilt euch !
Erster und zweiter Wächter^ Klotz und F?-au, Gou-
verneur werden von Nauke über den Steg an Bord
geschoben.
DER ALTE MANN UND DER JUNGE: Ich will
auch an Bord. Ich will mich setzen. Was zu essen !
Warum sollen die es besser haben!
ZWANZIGSTE SZENE
Vorige ohne den ersten Wächter / Zweiter
Wächter/Klotz/Die Frau/DerGouverneur
Volksmenge ist dazu gekommen ^ streicht am Lan-
dungssteg umher
RUFE: Wir wollen aufs Schiff! Aufs Schiff!
NAUKE (zu den Kameraden auf dem Landungssteg
und an Bord): Jetzt ist es zu spät. Der Lärm ver-
rät uns. Wir müssen abstossen. Wer nicht da ist,
muss an Land bleiben. DIE FRAU: Nur eine Se-
kunde noch, sie müssen ja kommen! NAUKE:
4o
Nein! Da, der Lärm an Bord? Wir sind verraten!
(Ruft ins Schiß): Kameraden, Wache, zu den
Wafftn!
Lärm ort Bord
EINÜNDZWAISZIGSTE SZENE
Vorige / Anna / Der erste Gefangene / Der
zweite Gefangene
ANNA (komint atemlos auf der Flucht mit einem
alten, weissbärtigen Gefangenen und einem,
zweiten jüngeren Gefangenen): Hier, kommt
doch, wir sind da, wir sind in Freiheit! Helft mir,
schnell, sie können nicht gehen! fDer alte Widder
Junge Gefangene werden über die Landungsbrücke
an Bord geschoben). ANNA (will an Bord): Halt,
wo ist mein Kind?
Neuer Lärm an Bord
NAUKE: Alle an Bord ! Jede Hand ist nötig! Ab-
stossen! ANNA: Nein, halt! W^o ist mein Kind?
Ich gehe nicht eher!
ZWEIUNDZWANZIGSTE SZENE
Vorige / Kapitän / Matrosen
Oben auf dem Deck der Kommandobrücke erscheint
ein Kapitän, U7vgeben von einem Knäuel ringen-
der Matrosen
KAPITÄN: Hilfe, Meuterei an Bord, Hilfe! DAS
"VOLK am Hafen kommt in immer gy^össeren Scharen.
DER JUNGE (ruft): Runler mit dem Kapitän!
4i
DREIUNDZWANZIGSTE SZENE
Vorige / Gouverneur / Erster Wächter
Zweiter Wächter / Später der Mann und
das Kind
^vj der Kommandob}-iiche tauchen der Gouver-
neur, erster und zweiter Wächter au/, und
üherivältigen den Kapitän.
GOUVERNEUR: Anker lichten! Abstossen ! ANNA:
Mein Kind! Klotz! Zu Hilfe! (Der Mann kommt
mit dem Kind auf den Armen.)
VIERUNDZWANZIGSTE SZENE
Vorige ohne den Kapitän
DER MANN: Kameraden! — Freiheit! DAS VOLK:
Das Militär ! (Der Ma n n lässt das Kind zur Erde.
Anna läujt ihrem Kind entgegen. Der Mann be-
tritt das Schiß.)
Trommelwirbel hinter der Szene
DAS VOLK: Die Soldaten!
FÜNFUNDZWANZIGSTE SZENE
Die Tochter eilt mit dem Kind an der Hand
auf das Schiff. Am Schiffseingang erscheint^ im
Schiß, — imnitten des Knäuels von Kämpfenden
der Kapitän, ringt sich los, springt auf den Lan-
dungssteg. Der Kapitän packt das Kind an der
Hand und springt mit ihn an Land. Im seihen Mo-
ment ivird der Landungssteg ins Schiff eingezogen.
Man hört einen Ruf: „Die Anker !'"'' Die Anker
gehen hoch
ANNA (am Schi jff seingang): Mein Kind! (Sie wird
zurückgerissen .)
SECHSÜNDZWANZIGSTE SZENE
Vorige / Der Offizier / Soldaten
Militär tritt auj^ an der Spitze der OJßzier
KAPITÄN: Meuterei! Ergebt euch, das Kind ist
Geisel ! DER GOUVERNEUR (ohen auf dem Ver-
deck): Unsere Geiseln sind die Deckoffiziere. DER
OFFIZIER: Das Kind wird erschossen ! ANNA:
Sie werden es nicht wagen! DER GOUVERNEUR
(auj der Kommandobrücke): Wir erschiessen die
Deckoffiziere! ERSTER UND ZWEITER W^ÄGH-
TER (neben dem Gouverneu?): Nein, wir schiessen
mcht,BrüderkeineGewalt! KLOTZ :Kameraden,ihr
seht wir können nur mit Gewalt das Rind befreien,
nur jetzt nicht weich sein! ANNA: Mein Kind!
Sie werden es nicht wagen! Nein, nicht schiessen.
Nicht Gewalt! Du hast uns gelehrt: Nicht Gewalt!
DER OFFIZIER f unten am Hafen): Ergebt euch,
zum letzten Mal! DAS VOLK: Das Schiff stösst ab!
DER OFFIZIER (reisst den Revolver het^vor, zielt
auf das Kind): Hallet das Schiff an! DER JUNGE
AUS DER MENGE: Das Schiff fährt ab! (Der
Offizier gibt Feuer. Das Kind sinkt tot um. Das
Volk durchby^icht die Kette der Soldaten.) DAS
VOLK: Mörder! DER OFFIZIER: Mörderlich
Mörder! (Er springt auf den Schi ^ seingang und
befindet sich auf dem Schiff vor Anna, die mit
geballten Fäusten vor ihm steht. ALLE RR Ü DER
auf dem Schiff rufen gleichzeitig einstimmig : Wir
töten nicht!!!
43
SIEBEKUNDZWAISZIGSTE SZENE
Auf dem Schiff
Der Hafen^ das Volk und das Militär werden in die-
sem Moment in Dunkel gehüllt, man hört nur noch
ferne, dumpje Stimmen. Nur das Schiß selbst ist
hell beleuchtet
Vorige ohne das Volk und das Militär
DER OFFIZIER: Ich Mörder! [ch habe es gemor-
det! Hier bin i( h, macht mit mir, was ihr wollt!
Ich will nicht länger leben!
ERSTER UND ZWEITER WÄCHTER, DER
MANN UND DIE FRAU: Nicht schiessen!
KLOTZ: Kameraden, der letzte Kampf ! ERSTER
UND ZWEITRR WÄCHTER, DER MANN UND
DIE FRAU: Nicht Gewalt! Brüderschaft! DER
OFFIZIER fspringt auf den Gouverneur zuj: Ich
will "nicht mehr leben! Macht mich nieder, gleich!
DER GOUVERNEUR: Mörder, Mörder. Ich müsste
dich töten. Ich kann es nicht mehr. Die um uns
sind stärker als unsere rohen Hände. Hier ist Frei-
heit, MATROSEN: Das Schiff ist auf See! Hohe
See! ANNA: Mein Kind, — Mord! KLOTZ:
Wir sind auf hoher See. Neues Leben. Freiheit!
NAUKE: Gerettet. Für die Freiheit, für das neue
Leben. Für die neuen Menschen ! ANNA: O, und
warum musste ein neuer Mensch sein neues Leben
geben? DER GOUVERNEUR: Für die Mensch-
heit! ANNA. Und wer hat das Recht dazu, Men-
schen für die Menscbheit sterben zu lassen? DER
GOUVERNEUR: Die Gemeinschaft. DER OFFI-
ZIER: Lüge, Lüge, Lüge! Sie will, dass wir leben!
Ende des ersten Aktes
u
ZWEITER ART
Auf dem Schiff
ERSTE SZENE
Nauke / Erster Gefangener / Zweiter
Gefangener / Der Offizier
NAÜKE: Esst, Jungens, esst! Wenn ihr nicht satt
seid, esst weiter. Das ganze Schiff ist für euch da!
Seit wir unterwegs sind, tue ich auch nichts an-
deres. DER ERSTE GEFANGENE: F^reiheit. Es ist
SO gute Luft; hab ich schon zwölf Jahre nicht mehr
geschluckt. NAüKE: Gute Luft? Find ich nicht.
Seit wir vom Meer in den Fluss gelaufen sind,
legt sichs mir dick über die Nase. ZWEITER GE-
FANGENER: Kann der Offizier nicht seine Uni-
form abtun? Das bohrt mir die Augen ein, ich
bin noch nicht ganz in die Freiheit gesprungen,
solang ich die Streifen sehe. NAUKE (zum Offi-
ziell): Zieh den Rock aus. Zwölf Jahre lang hat
dem Alten die uniform das Leben verdorben.
(Der Offizier zieht den Rock aus.) NAUKE: Das
ist das neue Leben, seht ihr? Wir werden noch
manchem den Rock ausziehen. ERSTER GEFAN-
GEN ER: Gerad das stand auf den Blättern gedruckt,
deswe{jen sie uns eingesperrt haben. Der Staats-
anwalt sagte ... NAUKE: Ach, lass den Staats-
anwalt, es gibt keinen Staatsanwalt mehr! Als ich
noch ein Junge war, hab ich mir schon hinter
jedem Polizisten gesagt : einmal bin ich gross, und
45
dann: den Rock herunter. Da seht ihr — wir
haben jetzt die neue Welt, alle müssen den Rock
ausziehen! ZWEITER GEFANGENER: Genau
das hab ich in meiner Verteidigunfjsrede vor Ge-
richt gesagft, ich sagte ... NAÜKE: Lass das
Gericht, Bruder, es gibt kein Gericht mehr. Wir
reden nicht mehr, wir machen das wirklich. Was?
Das ist ein Spass, wies jetzt alle Tage geht. Wir
heran an ein Schiff, überrumpeln, die Mannschaft
festlegen, dem Kapitän die Uniform vom Leibe
und alle herunter ins Verdeck zu den Gefangenen
schmeissen! Ich habs geahnt, — als Schiffsjunge,
als Schornsteinfeger, als Scherenschleifer — hab
ichs schon geahnt, dass es so kommen musste. —
Offizier, hast du auch satt gegessen? OFFIZIER:
Bin nicht hungrig. Ich esse, wenn wir anlegen.
NAÜKE: Hnngre, Bruder Mörder, hungre ruhig,
hier kann jeder essen und hungern, wie er will.
Das ist die Freiheit, seht ihr !
ERSTER GEFANGENER: Wenn wir anlegen,
dann adieu ihr da drüben, das alte Land hat mich
geschmeckt. NAüKE: Wie, du willst fort?! Das
gibts nicht, Kamerad! ZWEITER GEFANGENER:
Was, ihr haltet uns fest? NAÜKE: Festhalten?
Aber Bruder, wo steckt ihr? Jetzt beginnt es doch
erst! Das Schiff legt an jeder Stadt an, wir heraus,
und unter die Leute. In jeder Stadt! Wir legen
bei jeder Stadt am FIuss an. Machen Kameraden,
die mit uns kommen! OFFIZIER: Aber dann?
ERSTER UND ZWEITER GEFANGENER: Und
was sollen die tun? NAUKE: Was die tun sollen?
Brüder, Jungens, — was die tun sollen? Mit uns
46
kommen, den Offizieren die Röcke herunterreissen,
den Polizisten den eigenen Säbel zwischen die
Beine halten, die Staatsanwälte ins Loch sperren,
und mit uns kommen, mit uns kommen! Von einer
Stadt in die andere. Hier auf dem breiten P'luss,
auf dem Meer, den Schiffen die Ladung abnehmen,
die feindliche Mannschaft ins Zwischendeck sper-
ren, in den Städten die Vorratshallen aufmachen.
Jeder nimmt sich, was er braucht. Die Freiheit,
Freunde! Was fragt ihr? Seid ihr denn Männer?
Meine Mutter hätt euch das schon sagen können:
die rein zum Bäcker gelangt, und mit dem Brot
unterm Rock raus, dem Schutzmann ein Bein ge-
stellt, dasser über seinen eigenen Helm stolpert, —
und das war doch nur ne arme, gejagte Matrosen-
hure! ERSTER GEFANGEiVER: Und dann an die
Banken, und den Zins beseitigt! Ich hab zwanzig
Jahre lang daran gerechnet. Das ist das Wichtigste!
NäüKE: Zins? Geld? Ihr armen Kerle habt im
Zuchthaus die Zeit verträumt. — Das wissen wir
heute ganz genau : Von Geld ist überhaupt nicht
mehr die Rede. Jeder nimmt, was ihm vor der
Hand liegt: Den Topf, das Haus, das Schiffstau.
Die Erde ist gross genug für alle Hände. Wir
tauschen alles, zuletzt uns selbst. Freiheit! Freiheit!
Nieder mit der Gesellschaft! DER OFFIZIER:
Wann legen wir an? Wann kommt die erste Stadt?
Wann? O, die Mörderaus der Welt schaffen! Nieder
mit der Gesellschaft! ERSTER UND ZWEITER
GEFANGENER : Nieder mit der Gesellschaft!
DIE SGHIFFSGEFANGENEN (unten im Zwütchen-
deck noch unsichtbar): Lasst uns heraus! Leben!
47
Wir wollen leben! DER OFFIZIER: Was ist das?
Sie schreien. NAUKE: Die {gefangene Mannschaft,
die wir im Zwischendeck haben. Die sind sicher.
Die stören uns nicht mehr. DRR OFFIZIER: Ist
jemand von uns bei ihnen? NAÜKE: Die sind
eingesperrt — das sind doch Feinde! Künunere
dich nicht um die, wir haben Wichtigeres zu tun !
— Kamerad, du machst es an Land bei den Sol-
daten. Solche, wie du, gibt es noch mehr. Einer
muss nur das Beispiel geben. OFFIZIER: Und
die Frauen? NAUKE: Die Frauen machens auf
die andere Art. Das weiss ich von meiner Mutter,
dass ein Weib die halbe Stadt umlegen kann Die
Frauen gehen zu den Lauen, denen, die uns Gutes
wünschen, und sich nie getrauen werden, mit an-
zupacken. Dann sag ich euch, ehe so ein Ta{j um
ist, hat bald alles den Kopf erhoben, imd es kommt
ein Wutgebrüll wie von den Löwen in den Käfi-
gen. Auf einmal, seht ihr, sind wir da. Und die
neuen Kameraden haben schon die Fäusie den
andern vors Gesicht gehalten, ehe sies selbst noch
wissen! OFFIZIER: Die Frauen am Schiff!
ERSTER UND ZWEITER GEFANGENER: Die
Frauen! Die Frauen, kommt herauf!
ZWEITE SZENE
Vorige / Anna
ANNA (kommt): Was wollt ihr? Was ruft ihr mich?
Was schreit ihr hinein in mein neues Leben? Ich
war auf dem Meer, ich habe die Sterne gesehen.
Das Licht sprudelte über mich. Um mich war
48
Licht. So streck ich meine beiden Arme hoch im
Licht. So umarme ich euch, meine Lieben, im
Licht. Ihr seid die vollen milden Strahlen, und ich
bin in den Strahlen. Wir haben die Finsternis zer-
rissen. Wir haben dieSchatten zerschlagen. N A ü K E :
Zerschlagene Köpfe hatten sie freihch, die Schat-
ten. Wir haben sie unten ins Zwischendeck ge-
sperrt. Obs da wohl noch finstrer ist, als sonst?
Und die Ladung, die wir ihnen abgenommen haben
— alles Schattenware. Und der Wein, das Bier, der
Rum und der Proviant, den wir von ihnen her-
übergeschafFt haben — alles Finsternis. — Esst,
esst, Jungens: Nieder mit der Finsternis! ANNA:
Nieder mit der Finsternis! Wir sind vom Licht.
Ich bin nur noch Licht. Du bist Licht. Ich dreh
mich und schau dich: du bist Licht. Ich spiüng
unter euch, wir sind eine grosse, breite, quellende
Strahlenflamme. ERSTER GEFANGENER:
Flamme, Flamme! Die Flamme über die Länder!
Feuersbrünste an die Bankhäuser, Feuer an die
Papiere, die Scheine; der Zins der ganzen Welt
ist Asche! ZWEITER GEFANGENER: Ein Schutt-
haufen, klirrende Kehrichtreste das Geld! Die
Menschen geben sich die Hände. Ich habs gewusst.
Die Welt wird unschuldig.
OFFIZIER: Unschuldig, unschuldig! Kann man
Unschuldige töten ! Ich knie vor euch nieder, ich
umfasse euere Füsse. Ich bin frei geworden. Weib,
hier halte ich mit beiden Händen deine Füsse, dein
erschossenes Kind lebt in mir! Und ich lebe in dei-
nem Strahlenbett, dein Gesicht ist der Lichtbrunnen,
deine Arme sind die zuckenden Lichtflüsse, um-
4 Rubiner, Die Gewaltiosen 49
strahle mich mit deinen Lichthaaren ! Ich bin die
Schuld. Ich komme aus dem Kasernendunkel. Ich
hin Mörder, ich habe gemordet, ich müsste stei'-
ben: nun lebe ich neu im Lichtbrand. Ich knie vor
dir auf der Erde, ich schlage vor dir auf die
Planken nieder, wehrlos, du weisst alles von mir.
Leuchte zu mir, ich lebe neu für die Freiheit.
ANNA: Freiheit ! Wie diese Wirbel im Kreis aus mir
hoch strömen ! O, dass ich noch hierauf meinen Füs-
sen stehe ! Merkt ihr nicht, rasend aus mir, rund her-
um um die Welt die mächtigen Drehungen toben,
die drohenden blitzenden Kreise, Was steht ihr da?
Ihr ruft mich. Merkt ihr nicht, wie der Raum brau-
send hinter uns rauscht? Wo seid ihr? Warum
bin ich allein? Warum fliegt ihr nicht mit mir?
Habt ihr schon vergessen, wie wir auf die fremden
Schiffe stürzten, wie wir die zitternden Schiffs-
knechte knebelten — und wie Wenige waren wir:
Nur, weil wir Freie sind! — Warum schlaft ihr?
Warum wache allein ich? Auf! Herauf zu uns!
Löst euere Glieder! Vergesst eure dunkle Nacht
von Gestern!
DRITTE SZENE
Vorige / Der Mann / Die Frau
Der Mann und die Frau kommen
DER MANN: Gestern, gestern: schwere Steine,
Schüsse, Militärkolonnen, Mauern stürzen. Heute
zischt die Luft um mich, ich rühre keinen Men-
schen an, ich ströme für euch dahin, wie das Was-
5o
ser unterm Kiel, Ich bin für euch da, meine Brü-
der, ich will für euch arbeiten, ich wasche euch
das Verdeck, ich koche euer Essen, ich trag euch
in die Hängematte, wenn ihr krank seid. O, wie
klein ist das alles, was ich für euch tue, meine
Blutstropfen sind für euch da. NAUKE: Ein
einziges Gläschen Magentropfen war mir lieber als
die grossmütigst vergossenen Blutstropfen. Wer
für uns da ist, der geniesst seine Freiheit und hilft
uns bei unserm Spass. Ich bin dafür, dass heute
deine schöne Frau bei mir in der Kajüte bleibt.
Hallo, Bruder, haperts da? Deine Frau bei mir!
DIE FRAU: Ich gehör euch ! Ich flicke euere Fetzen,
ich kämme euch die Läuse aus den Haaren, ich
singe euch eure müssigen Minuten vor. Was ist
das alles? Seid ihr denn schon selig? Wir sind noch
weit von den Menschen! Um uns muss die ganze
Welt brennen, die Vergangenheit muss wie Mu-
nitionsstädte zum Himmel explodieren, wir müssen
über die Erde rasen und die Menschen befreien, —
und unser Leben ist so kurz! NAüKE: Freiheit:
davon müssen wir was haben. Das Leben ist kurz;
seit ich aus meiner Mutter gekrochen bin, weiss
ich, dass es mit Essen und Trinken vorbeigeht;
ein paar mal einem Weib um den Hals gefallen,
und eines Tags fliegst du vom Schiff ins Wasser
mit einem Schlag auf den Hinterkopf und bist tot.
Die anderen Menschen sollens ebenso gut haben
wie wir, aber wir müssen das fette Beispiel geben.
Die Flaschen herauf, sag ich, die Flaschen, und
die Essnäpfe nicht vergessen! Einen Schinken hab
ich unter der neuen Ladung entdeckt, einen Schin-
4' 5l
ken, saftig wie Weiberbrust. Wer nicht für das
grosse Freiheitsessen und -Trinken ist, der ist ein
Verräter! OFFIZIER fzu Anna): Mach mit mir,
was du willst. Ich bin die Planke für deinen Fuss.
Für alle Menschen werd ich da sein, ewig in dir!
NAüKE: Ihr da unten, Flaschen herauf, den
Schinken herauf!
VIERTE SZENE
Vorige / Erster Wächter / Zweiter Wächter
(Erster wnrf zweiter Wächter kommen beladen
hei' au f.)
ERSTER GEFANGENER: Zwanzig Jahre keine
Weiberhand mehr gehalten. Wo ist meine Frau
geblieben? Meine Schwester ist tot. Ich stand alle
Tage zwölf Stunden an der Maschine. Ich habe für
euch gedacht! Sind wir endlich da? Ich will ver-
gessen, was war, lasse mir die Sonne in die Augen
brennen. Dieser Geruch vom Wasser her, ich kenne
das nicht. Sind wir frei? Umschlingt mich, presst
eure Arme um mich, und dann hinein in alle Bör-
sensäle der Welt, die Banken gesprengt, unsere
Brüder befreit ! — springt mit mir unter die Geld-
herren, jedes Wort erstickt, das noch mit Geld-
dienst über die Telegraphendrähte läuft! ZWEI-
TER GEFANGENER: Ich wusste es immer, es
gibt keinen Besitz! Wir gehören uns alle. Ich bin
schwach. Ich habe nie in der Freude gelebt, seit
meiner Jugend hab ich Pläne entworfen. Aber ich
5a
weiss heute, es gibt eine Freude, vielleicht kann
ich allen helfen. Wollt ihr, dass ich für euch tanze?
Ich bin alt. Meine Knochen sind weich vom Ge-
fängnis. Soll ich unter euch springen, bis wir den
Himmel herunterholen? Dass ich frei bin! Nun
müssen alle frei sein. ERSTER WÄCHTER: Trin-
ken, Brüder, hier! O ich weiss es, wie man die
Gefangenen herausholt, vielleicht hab ich darum
mein Leben lang die Mauern um mich gehabt. Zu-
sammen mit euch brennen wir wie ein Blasfeuer
die Zuchthäuser nieder, unsere Brüder sind frei!
ERSTER GEFANGENER (zum ersten Wächter)
Ist das nicht deine Tochter, die da am Schiffsrand
steht, als wollt sie in die Sonne fliegen? ERSTER
WÄCHTER: Tochter? ich fühls kaum mehr. Sie
geht so hoch und gerade, ist etwas Feines gewor-
den, nicht mehr zu erkennen von früher; meine
Tochter war anders. Die sieht keinen Menschen
mehr, schaut durch mich hindurch, dass ich mich
oft vor Schreck umdrehe und hinter mich blicke.
Sie hört mich schon lange nicht mehr. Aber ich
hab ihr nichts zu sagen seit meiner eigenen Flucht!
NAUKE (erhebt sich halb, die Hand hohl vor den
AugenJ: Ein Schiff! Ein Schiff an der Flussmün-
dung, dort hinten, in der Ferne. DER MANN:
Wir sind nicht mehr allein auf dem Wasser! DER
OFFIZIER: Ein Schiff (^sw Anna) O sprich, eh ich
mit meinen Küssen zu dir falle, sag es mir. Hinauf
auf das Schiff. Wünsch es von mir, verlang das!
Wir springen von einem Verdeck aufs andere. Nie-
der mit der Besatzung, wir holen an Bord, was wir
finden !
63
FÜNFTE SZENE
Vorige / Der Gouverneur
Der Gouverneur fri^at/y, NAÜKE: Die Waffen!
Auf das Schiff! Wir rammen ein Leck, und dann
in der Verwirrung hinüber, die Mannschaft ge-
bunden, und jeden niedergemacht, der gegen uns
ist! DER GOUVERNEUR: Nein! NAÜKE: Nieder
mit dem Sklavenschiff. Auf! Gestern hiess es noch
Raub, heute heisst es Freiheit! DER GOUVER-
NEUR: Nein! OFFIZIER fzum Gouverneur):
Was willst du ?
SECHSTE SZENE
Vorige / Klotz
KLOTZ (tritt auf^ eilends): Das Schiff, das Schiff!
NAÜKE: Wir sausen mit allen Kesseln darauf zu!
DER GOUVERNEUR: Nein, nein, sag ich euch!
Das ist nicht die Freiheit! Das ist das Tier. Das
ist der Absturz! Die alte Welt der Feinde stirbt
schwarz zerfressen an der Pest. — Und diese da,
die Kameraden, rasen nach Besitz? KLOTZ: Lass
sie. Sie folgen ihrem Zwang. DER GOUVERNEUR:
Nein! Ich darf sie nicht lassen. Ich bin erweckt,
ich kann nicht mehr zurück. Ich kann die Menschen
nie mehr im Dumpfen lassen. Weisst du es noch
nicht? Rings um uns tobt Seuche. Drüben fressen
Besitz und Seuche brüderlich vereint an den
Feinden. Aber hier unsere Brüder — nur die
Reinheit kann sie noch retten! KLOTZ: Sieh, die
Armen hier, wie zum ersten Male aus ihnen die
54
Freiheit springt! DER GOUVERNEUR: Ich sehe
graue BUtze unter ihnen. Die Verwirrung steigt
wie Nebel um unser Schiff. Sie fallen in ihre Tier-
heit zurück. Sie schleudern sich zurück ins blinde
Vergessen. — Kameraden, heraus aus der Be-
fleckung. Unsere Kraft ist der reine Wille unseres
Freiheitschiffes, oder die Seuche von drüben stürzt
sich über euch! NAUKE: W^as willst du, Kame-
rad? Komm zu uns, küss mit uns! In einer Stunde
springen wir drüben dem Schiff auf den Leib!
Küsst mich, Frauen, küsst euch ! Das ist ein Leben,
ich habs gewusst, dass so ein Leben kommen wird.
Musik! — ich hörte Musik schon im Mutterleib!
Musik! O Freiheit!
KLOTZ fzum Gouverneur): Dort, dort am Ufer
— o sieh! sieh die dunklen Klumpen! Sind das
Menschen? DER MANN; Tote! Die Seuche? DER
GOUVERNEUR: Tote! Die Pest frass sie. Ich sagt
es euch! DER MANN: Die Pest — wir fahren durch
die Pest! DER GOUVERNEUR: Die Pest um uns.
Die Pest auf dem Feindesschiff. Und in unsern
Brüdern: Das Tier! (zu den anda-nj: Nun verlass
mich nicht, Menschenkraft in mir!
KLOTZ: Das Schiff, es kommt auf uns zu! ERSTER
WÄCHTER: Mir ist unheimlich; ich seh, wie sie
drüben Flaggen ziehen und Kanonen richten!
ZWEITER WÄCHTER: Wir verfolgen sie nicht
mehr, sie jagen auf uns! OFFIZIER: Sie verfolgen
uns! NAUKE; Uns! ANNA: Ich ergebe mich
nicht! DER MANN: Sie werden sich rächen. DIE
FRAU: Sie verlangen unsere Auslieferung und
lassen euch dann frei. Wollt Ihr uns verraten?
55
DER GOUVERNEUR: Ihr dürft nicht verzweifeln.
Seid ihr nicht frei? NAUKE: Scherze nicht mit
uns! ERSTER GEFANGENER: Sprich, ich ver-
stehe dich. Schnell. Ich bin alt. Mein Leben ist
bilhg. ZWEITER GEFANGENER: Was sollen
wir tun? DER GOUVERNEUR: Seid ihr nicht
die Führer? Rollt nicht die Zukunft aus unseren
Händen als neue Welt? Wie dürft ihr das ver-
gessen? NAUKE: Führer! Ich bin Führer! DER
MANN: Gibt es Führer? Gibt es noch Führer in
der letzten Not der Menschen? OFFIZIER: Sie
verfolgen uns! Wie retten wir uns? KLOTZ: Gibt
es Führer? fragst du — vorm Tode sagst du das?
D E R G O ü V E R N E U R : Ihr seid frei ! Vorbild seid
ihr für die Menschen! Unser Schiff fährt durch
den schimmernden Himmel zu den Menschen, sie
aufzurichten, ihr macht sie zu Brüdern, ihr erinnert
sie an ihre Heiligkeit. Aus Euch wird die Mensch-
heit strömen, ihr pflanzt das Morgenreich in die
Länder. Und ihr habt Angst? Drüben folgt euch
nur das Tier, die böse Dunkelheit. Ihr müsst nur
wollen, und sie ist dahin! OFFIZIER: Es ist zu
spät! Sie ziehen die Feindessignale. Sie richten
ihre Riesengeschütze ! DER GOUVERNEUR : Wir
müssen nur -wollen!
ANNA: Nimm meinen Willen! Sag was ich soll!
Hauch ihn unter die Brüder, wenn er euch retten
kann. DIE FRAU: Nimm mein Leben. (Zu Anna)
Nimm da es, Schwester! Hier lieg ich zu deinen
Füssen, dich stärker zu machen. OFFIZIER: Wollt
ihr mich? Werft mich hinüber, sie hängen mich,
oder sie schiessen mich zusammen, oder sie hacken
56
mich in Stücke, vielleicht kann jeder blutende
Fetzen von meinem Fleisch einen von euch retten !
ERSTER GEFANGENER: Ich bin es, sie wollen
mich holen. Noch einen Zug von dieser Luft atmen,
und sie können wieder das Gefängnis über meinen
Schädel pressen. Ruft herüber, das ich für euch
gehe. ZWEITER GEFANGENER: Nein, ich! Ich
bin älter als ihr alle! Ich habe mehr gemacht als
ihr, ich war gefährlicher als ihr. ERSTER WÄCH-
TER: Ich weiss, wie mans macht! Schiesst mich
nieder, ruft, dass ich der Rädelsführer war, einem
alten Beamten glauben sie, auch wenn er tot ist.
Wozu ist mein Leben gut? Ich habe die Freiheit
gespürt, nun kann ich sterben. ZWEITER WÄCH-
TER: Ich bin noch jung, mein ganzes Leben ist
noch da, meine Freiheit aufgeben: das hat viel
grösseren Wert, als ihr alle ; nehmt mich ! N A U K E :
Mich! Mich! Ich — ein Führer! Der Kamerad
hats gesagt! Ihr liefert einen wirklichen Führer
aus. Das ist ein Braten für die, knusprig, voll ge-
gessen und getrunken, frisch, mit festen Sehnen!
Liebe Brüder und Schwestern : den letzten Schluck,
un d dann — hopp ! K L O T Z : Kann es einer allein ?
Ich war der Aufstand. DER MANN : Ich war der
Wille! Mit mir ersticken sie den Geist, und ihr
andern schlüpft ins Leben zurück. OFFIZIER
O wie spät ist es, was zögern wir! Ein Hauch noch,
und wir sind alle verloren !
DIE SCHIFFSGEFANGENEN (unsichtbar, un-
ten): Heraus ! Leben ! OFFIZIER: Die Gefangenen!
— Nun alle Kraft in uns zu Hilfe, sonst werden
wir wie Tiere niedergemacht! DER GOUVER-
57
NEÜR: Wir sind nicht verloren. Wir sind noch
frei. Glaubt mit mir! Wille, Wille, brenne durch
uns, Wille, schiesse aus unseren Händen, kehr
um in unserm Mund, fahre aus unseren Augen!
Alle wollen! Wir stehen in starrer Mauer still,
wir tauchen unter, wir verschwinden aus dem
Leben, wir fliegen lautlos über uns herauf. Wir
wollen! Auf! Aus uns steigt es herauf, heraus aus
uns tritt unser Mensch, hinüber durch den Raum,
es gibt keine Grenzen, furchtbar für die Gewalt!
Mensch, herauf! Hervor aus uns allen, Wille. Die
Gewalt prallt zu Staub! DER MANN: Wille!
DER GOUVERNEUR: Brüder, Mut, wir schreiten
hinaus aus unserem Leib. Unser Wille schwingt
aus uns über den Raum hin. Wille, stoss in die
Feinde! KLOTZ: Freiheit! DER GOUVERNEUR :
Freiheit stösst aus uns! Jetzt wir alle: unser Wille
heiss wie ein weisser Strahl ganz auf sie ! ANNA:
Wir Menschen gegen die Knechtschaft ! OFFIZIER.
Nieder die Gewalt! DIE FRAU: Gemeinschaft
gegen die Gewalt! ALLE: Gemeinschaft! DER
GOUVERNEUR: Menschen, unsere Gemeinschaft
zerstört ihre Panzermacht! — Unsere Kraft! Sie
wenden! — Da — sie fliehen! ALLE: Freiheit!
SIEBENTE SZENE
Vorige
OFFIZIER: Sie fliehen! Freiheit siegt! DER GOU-
VERNEUR: Verwirrung unter die Gewalt! Ge-
rettet! Die Gewalt sprang ab vor Menschen willen.
Seht, wie das Schiff klein dort unten schwindet!
68
• — Ihr, Sternbrüder, seid ihr nun Eurer Kraft ge-
wiss? Das neue Leben hegt vor uns! ALLE: Ge-
rettet — sie fliehen! NAUKE: Gerettet! Ich hab
uns gerettet. Werd's mir merken. Allein durch
meinen Willen. Man steht still, tut gar nichts, bläst
durch die Lippen — und hast du nicht gesehen,
ist der Andere auf und davon ! In die feinsten Re-
staurants geh ich so! Zahlen? — ist nicht mehr!
Kellner, eine gute Zigarre und eine Flasche Sekt :
Mein Wille — pfft! Weg mit dir, Dummkopf!
Mein Wille! Freiheit! KLOTZ: Wir sind frei.
Ewig frei. Wir haben uns gerettet. Nun müssen
wir die Menschheit retten! ERSTER WÄCHTER;
An Land! Ich komme auf die neue Erde. Habe
mich mein Leben lang geduckt, bin gekrochen,
hab die Gefangenen gepeinigt. Wir legen an. Es
gibt keine Vorgesetzten mehr, nur Brüder. OFFI-
ZIER: Ich habe befohlen, habe die Soldaten ge-
quält, ich war dumpf, hab Befehlen gehorcht, ich
hab gemordet. Jeder Blutstropfen zerrt an mir, zu
den Menschen herüber zu springen und zu helfen.
An Land! ANNA: Ich strich an den Zellen des
Gefängnisses vorbei, und jedes Stöhnen fand mich
taub. Aber nun weiss ich, was das Licht ist, und
ich will, dass die Reinheit wie ein Feuer durch die
Menschen brennt ! ALLE (ausser Klotz, dem Mann
unddem Gouverneu?'): Freiheit, HofiFnung. An Land.
Die Stadt! NAUKE: Ans Ufer. Anlegen! DER
GOUVERNEUR: Nein! Wir können nicht anlegen!
NAUKE: Wir können alles was wir wollen! An
Land!
DER GOUVERNEUR, DER MANN, KLOTZ: Un-
59
möglich! DIE FRAU. Unmöglich? KLOTZ: Wir
können nicht an Land. Merkt ihr nicht längst, wo
wir sind? Drüben am Uter ist kein lebendes Wesen
mehr. Tot, tot! Die Städte sind tot, verkommen,
ausgestorben! DER MANN: Spürt, wo ihr seid,
Mut, Kameraden. Aus dem Wasser um uns steigt
Tod: Das ist der Untergang für uns, es dringt in
alle Poren, wer kann noch atmen, ohne zu wan-
ken! DER GOUVERNEUR: Brüder, Mut! Um uns
ist Tod ! Das Land ist tot ! Wir fahren durch den
Tod. Auf dem Wasser herrscht die Pest! NAÜKE,
ERSTER GEFANGENER, ZWEITER GEFANGE-
NER, ERSTER WÄCHTER, OFFIZIER: Die Pest!
Die Pest um uns! Hilfe! Hilfe! DER GOUVER-
NEUR: Uns hilft niemand, wir sind allein! OFFI-
ZIER: Zu Hilfe : Die Pest ! N A U K E : Teufel noch
einmal, Zins und Kapital, die Pest! Und der Rum
ist ausgetrunken. In keiner Flasche mehr ein
Tropfen ! DERGOÜVERNEUR: Brüder, wir dür-
fen uns nicht verlieren. Unser Wille muss stärker
sein als Todesgefahr. Jede Welle, durch die das
Schiff schlägt, spritzt die Seuche um uns hoch.
Aus den Turmspitzen der toten Städte drüben fliegt
die Seuche zu uns herüber. Jede Mauer will uns
zu klebrigem Moder machen. Um uns lebt nichts
mehr, Seuchendunst steigt um uns, das Wasser ist
zitterndes Grün. Wir sind Menschen. Nur die Zu-
kunft hält uns stark. Wir müssen leben für die
Freiheit. Glaubt eurem Willen; er rettet uns aus
Einsamkeit der Todeshölle!
OFFIZIER: Verloren, verloren! Mitten in der
Seuche. Ich hasse mich, dass ich mich je von Wor-
60
ten hinreissen liess. Ich hasse euch! ERSTER
GEFANGENER: Du hassest mich, du Lump?
Lieber zwanzig Jahre im Kettenkerker, als in der
Seuche verrecken. Betrüger! ZWEITER GEFAN-
GENER fzutn ersten Gefangenen) : Ich hab mir den
Kopf zermartert für die Menschheit, du hast höh-
nisch dazu gemäkelt, verfluchter Zinsenhans! Ich,
ich will nicht zurück in Gefängnis, geh allein, du
Schwindler. DER GOUVERNEUR: Kameraden,
glaubt an euer Leben. Wir leben, wenn wh' in
diesem Todesrasen fest aneinander glauben! ER-
STER WÄCHTER: Was hab ich von diesem Tod?
Meine Tochter — eine Fremde! Mein Zimmer
verlassen, meine Frau, mein Ansehen, mein Aus-
kommen — für eure Freiheit! Ich will mein Vogel-
bauer zurück haben, gebt mir mein Sofa wieder!
KLOTZ: Ist alles vorbei? Zu spät ! Im Stich gelassen
von allen! Die Kameraden fallen ab wie Leichen-
tücher! Hass! Wie allein, wie allein! Hasst nicht!
Hasst nicht, ihr dürft nicht hassen! Erinnert euch,
wer ihr seid ! Von uns bleibt nichts in der Welt,
wenn ihr noch hasst! ANNA: Sterben! Habeich
Liebe gehabt? Wo bleiben die Menschen? Tod,
und nie die Menschenfreiheit gespürt! An Land,
wenn wir an Land tot hinfallen, ist's gleich, so
haben wir doch das ferne Land berührt! DER
MANN: An der Seuche vermodern, wo es zur Frei-
heit ging! Noch ehe die Menschheit aus der Erde
aufstehen konnte, werden meine Arme und Beine
blau geschwollen abfallen, mein Kopf wird grinsen,
dieses Gehirn soll stinkendschwarzer Teig sein?
Ich kann nicht allein sterben. Wenn ich sterbe,
6l
wer wird dann noch leben ? DIEFRAU: Hilft mir
niemand? Ich will noch nicht sterben! Ich habe
schwache Menschen verlassen, ich habe Menschen
Unrecht getan für die Freiheit! Ich kann nicht
sterben ! DERGOÜVERNEÜR: Brüder, wir leben !
Ihr seid nicht allein ! Wir blicken uns in die Augen,
und jeder von uns ist die ganze Erde bis an den
Himmel ! Wir schleudern den Tod von uns !
NAUKE: Tod! Ihr habt alle den Tod verdient!
Wenn ihr krepiert, ich will der Letzte sein! OFFI-
ZIER, ERSTER GEFANGENER, ZWEITER GE-
FANGENER, ERSTER WÄCHTER, ZWEITER
WÄCHTER: Ihr Verräter, nieder mit euch Ver-
rätern. DER MANN, DIE FRAU, ANNA, KLOTZ:
Anlegen. Leben! An Land! DER GOUVERNEUR:
Wollt ihr meinen Tod? Ich geh ihn, er nützt euch
nichts. Wirmüssen unsern Weg fahren, wir müssen !
Wo ihr hintretet, ist die Pest ! ALLE f ausser dem
GouverneurJ: Zu Hilfe! Die Pest! (Sie sind im Be~
griß übereinander herzujallen.j
ACHTE SZENE
Vorige / Die Schiffsgefangenen
DIE SCHIFFSGEFANGENEN (unten.nochunsicht-
barj: Die Pest! Zu Hilfe! NAUKE: Die Gefange-
nen ! Sie schreien unten. Das ist das Ende! DIE
GEFANGENEN (unten): Lasst uns heraus! Die
Pest! Lasst uns heraus! Wir sprengen die Tür!
OFFIZIER: Die Gefangenen meutern. Wir sind
ganz verloren! DIE GEFANGENEN: Lasst uns
heraus! Wir sterben! EINE STIMME DER GE-
62
FAJN GENEN: Ein Kranker ist unter uns ! NAUKE:
Es kommt keiner herauf! Der erste, der das Ver-
deck betritt, muss dran glauben ! DER GOUVER-
NEUR: Verbrechen! O, dass ich nun eure Ver-
wirrung begreife; W^elche Schuld! Sie sind Men-
schen! Wir hatten kein Recht, sie gefangen zu
halten ! Das brannte in uns ! Welche Schuld !
ERSTER UND ZWEITER WÄCHTER: Schnell,
neue Schlösser vor die Tür, keiner darf herauf, der
Kranke steckt uns an! ERSTER UND ZWEITER
GEFANGENER: Die Treppe verbarrikadiert ! DIE
SGHIFFSGEF AN GENEN: Heraus! (Sie sprengen
unten die Tür). NAUKE, OFFIZIER, ERSTER
WÄCHTER, ZWEITER WÄCHTER, ERSTER
GEFANGENER, ZWEITER GEFANGENER (in
GewaltsstellungJ : Tod, wer das Verdeck betritt!
NEUNTE SZENE
DIE SCHIFFSGEFANGENEN (steigen langsam
herauf J: Leben! NAUKE: O Verzweiflung: Plat-
zen wir nicht an der Pest — erschlagen uns die
Meuterer! DER GOUVERNEUR: Reine Gewalt!
Wir alle werden leben.
ZEHNTE SZENE
Vorige / Der Kranke
DIE MEUTERNDEN SCHIFFSGEFANGENEN
(sind auf dem Verdeck angelangt, in ihrer Mitte ein
Kranker. Sie stehen zum. Angriß bereit): Luft! —
Nieder mit den Schurken ! DER GOUVERNEUR
63
(zur SchißsbesatzungJ: Kameraden, nehmt mein
Leben, ich rette uns. Nicht Gewalt ! DIESCHIFFS-
BESATZUNG lässt die erhobenen Arme sinken
und steht regungslos da. DIEMEUTERNDEN:
Nieder mit euch ! DERGOUVERNEUR! Men-
schen! Gemeinschaft! DIE ME ÜT E RNDEN:
Feinde! Tod! KLOTZ, DER MANN, DIE FRAU,
ANNA fmit ausgestreckten Armen): Gemeinschaft!
DIEMEUTERNDEN (lassen entsetzt die Fäuste
sinken): DER KRANKE: Ich sterbe. Warum er-
schlagt ihr uns nicht? NAUKE, OFFIZIER,
ERSTER WÄCHTER, ZWEITER WÄCHTER,
ERSTER GEFANGENER, ZWEITER GEFAN-
GENER (bewegungslos): Rettung. Wir glauben.
OFFIZIER: Wie konnte ich vergessen. Brüder-
schaft! GOUVERNEUR (zu den Meuternden):
Ihr seid die Brüder! DIEMEUTERNDEN: Wir
sterben! DER KRANKE: Warum wehrt ihr
euch nicht. Wir sind krank. Ist das die Pest? Dann
sterb ich wie ein Hund. Sie machen euch alle nie-
der. DERGOUVERNEUR: Sie tun uns nichts —
Du stirbst nicht. Du wirst leben. Ich liebe euch,
Brüder! DIE MEUTERNDEN. Brüder? DER
GOUVERNEUR (ergreift den Kranken): Freund,
Kamerad, mein Bruder! Du bist die Zukunft, wie
wir die Zukunft sind. Nimm mein Leben, wenn
ich es geben soll, und lebe du! Alle Menschen-
kraft, die durch die Welt fliesst, strömt jetzt durch
mich. Alle Brüder geben ihre Liebe für dich, un-
ser Leben ist für dich da! KRANKER (zitternd,
erstaunt): Ich hab nur noch Stunden ! DERGOU-
VERNEUR: Wer Bruder der Erde ist, wird le-
64
ben. fch umarme dich. Du bist niclit krank. Icli
will es. Du bist nicht krank. Wir wollen es! (Er
umschlingt ihn.) DIE MEUTERNDEN (leise):
Die Pest! KLOTZ, DER MANN, DIE FRAU, ANNA
(umschlingen gemeinsam, den Kranken): Du bist
nicht krank! DER GOUVERNEUR: O fühlt ihr,
wie die Zukunft wieder durch euer Blut schiesst?
Du bist nicht krank! Du lebst in der JL.iebe!
NAUKE, OFFIZIER, ERSTER GEFANGENER,
ZWEITER GEFANGENER, ERSTER WÄCHTER,
ZWEITER WÄCHTER (lösen sich ans ihrer Starre,
umarmen Klotz, den Mann, Anna, die Frau,
den Gouverneur, schwach, jeder in einem ande-
ren Seufzer) : Liebe ! D E K G O U V E R N E U R : O Ki af t,
wieder ist sie unter uns! Unser Wille trägt uns
wie ein Sternenwind zur Freiheit der Menschen!
DIE MEUTERNDEN (^sc/iwac/i^: Freiheit? KRAN-
KER: Was habt ihr nur getan? Ich fühle meine
Glieder stark. O Rettung! Soll ich euch dienen?
DER GOUVERNEUR: Nein, du dienst uns nicht.
Wir werden dir dienen! Spüre wie die Erde hell
wird vor unserer Reinigung! DER OFFIZIER:
Komm, ich wasche dich ! 0 dass ich ins alle Dunkel
zurückgefallen war! NAUKE fzu den Meutern-
den): Brüder, ich hab zu trinken für euch, heim-
lich versteckt, Flaschen für mich, ihr sollt sie
haben! DER GOUVERNEUR: Spürt ihr wie das
Schiff über das Wasser saust! Unser neues Blut
treibt seinen Lauf. Das Ziel ist nahe! KLOTZ UND
DER MANN (zum Kranken): Willst du meine
Hände, meine Arme haben, meine Arbeit? Ich
gebe mich für dich!
5 Rubiner, Die Gewaltlosen 65
DER GOUVERNEUR: Was sind wir für die Men-
schen? Tra{|en wir schon die Freiheit in unseren
Händen? Nein, so haben wir nur uns selbst ge-
wonnen! Wir haben noch uns! Wir haben noch
alles zu verlieren! ANNA fziim Gouverneur): Ich
war ferne von dir. Aber nun sage ich zu dir: Ge-
liebter ! DER GOUVERNEUR: Ich wollte aus
uns allen : Liebe! Aber nun darf ich es nicht mehr
sagen. Das ist noch Hochmut. Es ist zuviel. Wir
^ sind noch zu reich. Wir müssen hinab, ganz tief
hinab zur letzten Armut! ANNA: Geliebter, ver-
nichte mich, zerstöre mich, dring in mich, tu mir
Gewalt vor allen, ich will niedrig sein. Nicht einmal
die Hand leg ich über die Augen! DER GOUVER-
NEUR: Nicht ich, Geist soll dich durchdringen.
Ich bin ein armer Mensch, ich bin nur noch für die
Menschheitda! ANNA-- Bin ich nicht dieMenschheit?
DER GOUVERNEUR. O, wie tanzen wir alle noch
in der Macht und der Gier der Gegenwart. Wir
sind noch nicht arm genug für die Zukunft!
NAUKE: Ich bin verloren, wenn ich nicht mehr
in der Gegenwart leben soll. Die Zukunft ist hoff-
nungslos. DER GOUVERNEUR: So hoffnungs-
los, dass sie verzweifelt ist. Die Verzweiflung muss
über uns sein. — Wir haben noch zuviel Hoffnung,
noch schlafen wir ! — Verzweiflung über die
Welt: aus ihr die Kraft, das Ausserste zu wollen!
Das Schiff tobt an den Städten vorbei, und wir
fürchten noch ihre Gefahr für unser Leben, unsern
Willen. Und jetzt sage ich euch, Kameraden, wir
müssen an Land ! NAUKE: An Land? In die Pest,
in die toten Städte? DER GOUVERNEUR: So
müssen wir die lebendige Stadt schaffen! Wir
müssen durch den letzten Tod, durch den letzten
Unrat, durch die erstickende Pestwolke. Wir müs-
sen zu den Menschen !
DER KRANKE: O seht, wie lang ist es her, dass
dies nicht mehr war: dort unten die Stadt! Türme
und Häuser wie Kornähren dicht, und darunter
klein: lebende Menschen! DIE MEUTERER:
Die Stadt ! Lebende Menschen ! DER GOUVER-
NEUR: O meine Brüder, wir müssen hinein in das
Schicksal, wissend! Was haben wir getan! Wir
haben durch die Flucht und durch die Erniedri-
gung nur uns gewonnen. Nun müssen wir uns
wieder verlieren. Wir sind zu sehr Selbst; wir
haben noch ganz unser Ich. Wir müssen uns spren-
gen ! Jetzt müssen wir zerstören ! A N IN A , D l E
FRAU: Zerstören? DER GOUVERNEUR: Zer-
stören müssen mir unsere letzte Rettung. Zerstören
müssen wir die Planken unter unseren Füssen.
Wir müssen unsere letzte Sicherheit zerstören.
Wir dürfen nicht mehr zurück. Wir dürfen
nicht mehr fliehen können. ANNA: Was willst
du tun? DER GOUVERNEUR: Wir müssen an
Land und das Schiff zerstören. MEUTERER: Das
Schiff zerstören? ANNA, DIE FRAU, KLOTZ,
DER MANN: Nein! DER GOUVERNEUR: Wollen
wir nicht die Befreiung? Wir befreien die Men-
schen nur, wenn wir als Freie zu ihnen kommen!
ANNA: Aber das ist unser Tod ! DER GOUVER-
NEUR: Nein, es ist unser Glaube für die Menschen !
Wir müssen durch die grösste Versuchung, um
alles zu verlieren ! DIE MEUTERER: Land, Land!
5- 6-
Die Stadt ! Der Hafen ist da ! N AU K E : Der Hafen
— Hilfe! Wir verrecken an der Pest! Fort vona
Hafen! DER GOUVERNEUR: O ihr Brüder, zu-
erstmüssen wir ganz verschmolzen sein, einig wie
eine Wabe Honig, ein einziges aufblitzendes Feuer-
licht in Liebe, eh wir den Menschen die Freiheit
bringen. Brüder! Wir sind eins in Liebe! ALLE:
Brüder! Liebe! DER GOUVERNEUR: Menschen!
W^ir glauben! ALLE: Wir glauben! NAÜRE:
Volldampf auf den Fluss ! Rettung! — Nur weg
vom Land! DER GOUVERNEUR: W^elt! Unser
Leib trägt die Freiheit um die Erde. Brüder, Ka-
meraden, für die Menschheit werft ihr euer Leben
fort, unser Glaube wirft uns in die Zukunft. ALLE:
Freiheit! NAUKE: Freiheit zu leben — nicht zu
sterben ! Das Land kriecht schon über uns ! Fort !
Fort! DER GOUVERNEUR: Den letzten Besitz
von uns Armen zerstör ich zur Freiheit. Frei geben
wir uns der Welt hin. ALLE: Hingabe! DER
GOUVERNEUR: Dieser Hebel sprengt unser
Schiff — er ist heisse Glut. — Mut, Glaube! Wir
können nicht mehr zurück. Vor uns die Stadt!
Wir müssen an Land — wir dürfen uns nicht
mehr aufs Schiff zurück retten! Ich sprenge das
Schiff! — Hingabe! NAUKE: Nein! Um alles in
der Welt: nicht der Hebel! Ich habs nicht für Ernst
gehalten! Die Hand fort vom Hebel! f Stürzt hin-
auf zur Kommandobrücke, um dem Gouvernetir in
den Arm zu fallen.) DER MANN: Das Ufer! Hier
ist das Land! Wir sind an Land! ALLE: Wir
sind an Land! DER GOUVERNEUR: Zurück! Ich
sprenge! Wer leben will: an Land!
68
ELFTE SZENE
Der Gouverneur reisst am Hebel der Komman-
dobrücke. Das Licht verlischt. Alle stürzen vom
Schijff an Land, als Letzter der Gouverneur. Im
Dunkel fliegt das Schijßf in die Luft. Hell. Alle ste-
hen am UJer.
ALLE: Das Land! KRANKER: Steine unter
meinen Füssen! Wir sind an Land. NAüKE:
Hilfe, der Tod springt mir schon an den Hals!
DER GOUVERNEUR: Du lebst, glaube an deinen
Willen. NAUKE: Verloren! Das Schiff ist ver-
loren, wir können nicht mehr zurück! DER GOU-
VERNEUR: Gerettet. Zum ersten Mal frei! DER
KRANKE: Da — die Stadt ist vor uns! NAUKE:
Das ist die Wirklichkeit! Hilfe! Die Wirklichkeit!
DER MANN: In die Stadt! In die erste Freiheit!
ALLE: Die Stadt! — Die Freiheit!
Ende des zweiten Aktes
69
DRITTER ART
In der belagerten Stadt
ERSTE SZENE
Drei RevolutioDärinnen der Stadt
ERSTE REVOLUTIONÄRIN: Die letzte Schüssel
Milch für alle. Was soll ich mit meinen Kranken
machen? ZWEITE REVOLUTIONÄRIN: Wir
selbst haben es noch gut. Aber meine Arbeiter in
den Fabriken? DRITTE REVOLUTIONÄRIN: Ich
bin schon ganz schwach. Und dabei die Männer
immer wieder vertrösten, solang die Brotverteilung
stockt! ERSTE REVOLUTIONÄRIN: Man kann
keinem Menschen mehr ruhig ins Gesicht schauen,
so kriecht diese Seuchenluft um einen. Die Männer
fallen an den Barrikaden mit den Waffen in der
Hand um vor Hunger, oder weil die Pest auf ihnen
sitzt. DRITTE REVOLUTIONÄRIN: Kein Mensch
hat mehr zu essen, wenn wir nicht sorgen! Wie
lange können wir uns noch halten? Was
sollen wir denn machen? ERSTE REVOLUTIO-
NÄRIN: Wir müssen den Weg aus der Stadt fin-
den. Sie verlieren sonst alles Vertrauen, das sie zu
unshaben. DRITTE REVOLUTIONÄRIN: Wenn
wir zu den Bürgerlichen hinüber kämen und mit
denen verhandelten. ERSTE REVOLUTIONÄ-
RIN: Wie sollen wir hinüberkommen? Ein Schritt
über diese Barrikademauern und durch die Grä-
ben, und wir sind erschossen wie unsere Männer!
70
ZWEITE REVOLÜTIONÄllIN: Ich kann diesen
Hunden kein g^utes Gesicht machen, selbst wenn
sie den Angriff gegen die Stadt liessen. Achtzig-
tausend Menschen haben sie uns aus dem Land
geschleppt, achtzigtausend als Sklaven in die Berg-
werke gesteckt, in ihren Kloaken ersticken lassen,
geschlagen, gefoltert, zu Tode getreten, als Skla-
ven! Was, dazu haben die ünsrigen sich das Blut
in den Adern verdorren lassen, vor Arbeit und
HungerundMüdigkeit und Krankheit, dass wir nun
mit den Bürgern verhandeln ! ? Alles soll für nichts
gewesen sein? DRITTE REVOLUTIOKÄRIN:
Aber es geht nicht weiter! Was soll man machen?
Die Ünsrigen halten es nicht länger aus. Und
heut war ein Tag, das war noch nie. So eine
Schwäche kam plötzlich über alle. Eine sinnlose
Hoffnung wie bei Sterbenden!
ZWEITE REVOLUTIONÄRIN: Zum erstenmal
hörte ich heut Gerüchte in der Stadt — als wenn
sich etwas Grosses geändert hätte in diesem Elend!
ERSTE REVOLUTIONÄRIN: Ich auch! ZWEITE
REVOLUTIONÄRIN: Als ob ein Flieger aus der
Luft hunderttausend Proklamationen abgeworfen
hätte, die jedem das Glück versprachen. DRITTE
REVOLUTIONÄRIN: Das ist viel unheimlicher
als Fliegerzeltel. Morgen sind sie alle aus Ent-
täuschung auf Gnade und Ungnade ausgeliefert!
ERSTE REVOLUTIONÄRIN: Ausgeliefert, heisst
„auf Ungnade". ZWEITE REVOLUTIONÄUIN:
Es sollen Menschen in der Stadt sein, die keiner
noch gesehen hat, sie gehen herum und muntern
die Schwachen auf. Aber wer kann das glauben?
71
Fiebergerüchte. Wie sollen die hereingekommen
sein? DRITTE REVOLUTIONÄRIN: Hinaus-
kommen! Wie kommen wir hinaus? Kämen wir
nur einen Fuss breit hinaus, so war schon Hoff-
nung! ERSTE REVOLUTIONÄRIN: Hinaus-
kommen — unmöglich. Wir sind hier gefangen.
ZWEITE REVOLUTIONÄRIN: Gefangen! ERSTE
REVOLUTIONÄRIN: Das erleben wirnichtmehr:
die Freiheit. ZWEITE UND DRITTE REVOLU-
TIONÄRIN: Die Freiheit! DRITTE REVOLU-
TIONÄRIN: Die Freiheit sag ich? Wie kommt das
nur aus meinem Mund! Blumen wieder zu sehen?
Den Himmel über mir, Luft um mich? Mein
Kleid über eine Wiese wehen? ERSTE REVOLU-
TIONÄRIN: Wie sind aber die Bürger aus diesem
Schloss entkommen? Die ünsrigen haben niemand
gefangen, nur die paar Diener, die als Wachen
an den Toren standen! ZWEITE REVOLUTIO-
NÄRIN: Die Bürger sind entkommen, und am
ersten Tag, als der Aufstand losbrach. ERSTE
REVOLUTIONÄRIN: Dann müssen Ausgänge
aus der Stadt heraus da sein ! DRITTE REVO-
LUTIONÄRIN: Ich bin ganz schwach. Wir
müssen suchen! ERSTE UND ZWEITE REVO-
LUTIONÄRIN: Suchen! Hinunter in die Ge-
wölbe! DRITTE REVOLUTIONÄRIN: Hinun-
ter. — Hast du Mut? ERSTE REVOLÜTIONÄ-
N: Jetzt fragt keine nach Mut. Hat auch keine
von uns gefragt, als der Aufstand begann. Es ist
das Letzte! ZWEITE UND DRITTE REVOLU-
TIONÄRIN: Hinunter! (Die drei Frauen sind im
Begriff in die Vei^senkiing hinabzusteigen.)
72
zw EHE SZENE
Vorige / Anna
Anna steigt aus der Versenkung ]ierauf.
DIE DREI REVOLUTIONÄRINNEN: Wo sind
wir? Dort ist es dunkel. — Halt, Geräusch! Ah!
— Wer ist da? (Anna im. Licht.) DIE DREI
REVOLUTIONÄRINNEN: Wo kommst du her?
ANNA: Vom Flusse! ZW EI TE R E V OLU TIO-
nIriN: Wer bist du? Du bist nicht von uns!
ANNA: Ich komme zu euch. Man hat uns gehetzt
wie Fledermäuse im Licht. Wir schleichen tage-
lang durch Löcher, Schutthaufen von Häusern,
durch Keller und Gänge zu euch. Unsere Brüder
dringen durch die Mauern und Steine zu euch in
die Stadt, wie Wassertropfen durch Erdreich.
ERSTE REVOLUTIONÄRIN: Ihr kommt zu
uns? Und wir wollen hinaus! ANNA: Ihr wollt
hinaus? Wohin wolltihr? DIE DREI REVOLU-
TIONÄRINNEN: Zur Freiheit. ANNA: Ich brin-
ge euch die Freiheit! DIE DREI REVOLUTIO-
NÄRINNEN: Die Freiheit? ANNA: Warum
zweifelt ihr! Vor einer Wundersekunde nur wart
ihr noch so sicher in eurer Freiheit. ERSTE RE-
VOLUTIONÄRIN: Die Stadt ist bedeckt von
schwarzer Luft, Tausenden, an glatter Haut bre-
chen plötzlich Wunden stinkend auf, Abgezehrte
fallen in die Knie und bleiben tot liegen; die Seu-
chen wie vom Feind gesandt, blasen Signale durch
die Häuser — und ich bin gewählt, für die Spi-
täler zu sorgen, Ich.bin zu schwach. ANNA: Bist
du zu schwach? Das ist gut. Dann wirst du ein-
73
mal stärker sein als du jemals gehofft hast! ZWEI-
TE REVOLUTIONÄRIN: Was kann ich noch tun?
Wir haben in den Fabriken keine Kohlen mehr,
keinen Strom, die Treibriemen sind dürr und fett-
los und reissen am Rad, die Sicherungen brechen
im Metall und saugen die Arbeiter in den Tod.
Können wir denn noch arbeiten? Was kann ich
machen? DRITTE REVOLUTIONÄRIN: Brot
brauchen sie ! Brot ! Nur dies erste. Das Brot. Es
ist nichts da. Nichts mehr. Diese Freiheit ist die
Verantwortung, die auf jedem Menschen liegt, —
Ich kann nicht länger an ihr tragen. W^er bin ich
noch ? Ein Nichts. Für die andern — eine Lüge.
ANNA: Wo seid ihr, Schwestern? Ihr seid fern Ton
euch. Ihr brecht zusammen unter Kindern, die
nicht eure Geburten sind. Ihr seid nur noch die
Buchstaben eurer Namen. Ihr seid Beamte, Mini-
ster, Leitende — aber rollte das aus euch? Müsst
ihr erst euch noch mit eurem Hirn hersagen, dass
ihr lebt und handelt für die Idee? O, dann seid
ihr verloren ! Das erste Geständnis vor euch selbst,
und ihr seid verloren, die Stadt verloren, die Frei-
heit ist verloren! ERSTE REVOLUTIONÄRIN:
Unser grösster Mut war, dass wir die Verzweiflung
verbargen. Da unten, das Volk glaubt uns stark —
wüssten sie, wie wir uns fesseln, um nicht in den
Wahnsinn des Nichts auszubrechen, so würden sie
an Hoffnungslosigkeit sterben wie Regenwürmer
auf ausgedörrtem Stein! ANNA: Aber ihr seid
verloren, wenn ihr euch vom fremden Sinn lenken
lasst! Ihr wollt die Freiheit? Ihr selbst seid die
Freiheit : Ihr braucht nicht zu fl üchten, ihr braucht
74
nichts zu verbergen. Wie? ihr leitet? ihr verfügt?
Ihr versammelt, ordnet an, gebt Aufträge, seid
Zahlen-Nenner, macht Zahlen? In welcher alten
Welt lebt ihr? Wollt ihr die Kadaver eurer selbst
bleiben? ERSTE, ZWEITE, DRITTE REVOLU-
TIONÄRIN: Was sollen wir tun? ANNA (zur
et^stenj: Lass deiue Krankenhäuser, ERSTE RE-
VOLUTIONÄRIN: Ah — aber sie werden zerfal-
len! ANNA: Die Kranken werden gesund, du
wirst sie pflegen! — (zur ziveiten:) Lass du deine
Fabriken! ZWEITE REVOLUTIONÄRIN: Und
die Arbeit, die stillsteht? die Leere, dieses Elend,
"wenn nichts mehr gemacht wird? ANNA: Sie soll
stillstehen. Du selbst wirst arbeiten! — (zur drit-
ten:) Kümmere du dich nicht mehr ums Brot!
DRITTE REVOLUTIONÄRIN: Hunger! Hunger!
Weisst, was du herbeirufst: Hunger! ANNA: Du
backe selbst Brot! Das Volk braucht euch nicht!
Ihr brauchtet die Andern, weil ihr euch selbst
braucht!
ZWEITE REVOLUTIONÄRIN: Aber das ist Auf-
lösung! ANNA: O war sie doch schon unter uns
in der Stadt, die helle, ehrliche Stille, das Atem-
anhalten der Treibriemen ! ERSTE REVOLUTIO-
NÄRIN; Und sind wir dann noch nütze? Wird
diese Stille nicht uns selbst verschlingen? ANNA:
Wir sind nicht allein. Glaubt ihr, dass wir auch
nur stehen könnten, wenn nicht aus allen Städten
der Welt Arme zu uns sich herüberstreckten! In
alle Mauern hinein bohren sich Augen, hinauf
in den Himmel brennen Augen. Zu uns, zu uns!
Zu uns blitzen sie her, verzweifelt, so wie ihr ver-
75
zweifelt seid. Jeder Schrei, der aus uns auffliegt,
kommt aus den Millionen Mündern. Glaubt nicht,
wir hatten nur Kraft, wenn wir in Regimentern
einher stampfen. Blickt hindurch durch die Mau-
ern, springt über die Grenzen! Stürzt zu allen
Frauen, die lieben! Millionen Frauen in jedem
Land stehen wie auf einsamer Insel, um sie strudelt
Verzweiflung, sie warten auf euch. Millionen sind
da, bebend bereit zu unserm Kampf! Blickt hin,
wie diese Erdkugel von Frauen, eng gedrängt starre
Leiber, und doch noch un verbunden, aus dem Dun-
kel aufsteigt, noch geschlossene Augen, gekreuzte
Hände, noch ein enger Riesenfriedhof von Haar-
kränzen, aber ein Schrei aus euch, ein Schrei zu
Verwandten: die Arme breiten sich, Augen in
tiefer Kraft finden euch, und ein Herzschlag ge-
meinsam zittert durch die Haut der Erde, dass
einen Atemzug lang jede Hand still hält, jede
Arbeit ruht, jede Fabrik versinkt, jeder Mörder-
schuss kraftlos vor den Lauf zu Boden fällt.
ZWEITE REVOLUTIONÄRIN: 0,und wie werden
sie essen? ANNA: Du wirst es ihnen nicht geben,
wenn du nichts anderes tun als sie nur führen
willst! Treibe sie, meine Freundin, sei unter ihnen,
hauche ihnen Erregung ins Gesicht, dass sie es
einen Tag lang vergessen. Ein Tag nur, ein ein-
ziger Tag Ruhe, ein Tag Stille aller Menschen
auf der Erde, und diese alte Welt ist verwischt;
eure Mauern und Gräber treiben die Feinde selbst
zurück, ohne dass einer von uns die Hand regt.
Ein Tag nur ganz eure Kraft, euer Lächeln, euer
Duft, euer Atem!
76
DRITTE SZENE
Vorige / Das Volk draussen
DAS VOLK (draussen Bewegung): Hunger! DIE
DREI REVOLUTIONÄRININEN: Das Volk ! Sie
warten auf uns! Was rufen sie? DAS VOLK
(draussen): Hunger! ERSTE REVOLUTIONÄRIN:
Ich höre: Hunger! ZWEITE REVOLUTIONÄRIN:
Was sollen wir tun? DRITTE REVOLUTIONÄ-
RIN : Sie hoffen auf uns. Wir können sie nicht im
Stich lassen. ZWEITE REVOLUTIONÄRIN:
Wir müssen an die Ärheit. DRITTE REVOLU-
TIONÄRIN: Wir können nicht hierhleiben. Sie
warten auf die Neuordnung der Verteilung. ANNA:
Ihr müsst zu ihnen. Ihr dürft sie nicht täuschen
mit neuen Verfügungen. Ihr müsst unter ihnen
sein, und ihnen helfen. Helfen zum ersten neuen
Tag der Welt. VOLK (draussen): Hunger!
(Schläge an der Tür.)
VIERTE SZENE
Vorige / Der junge Mensch
JÜNGERMENSCH (tritt auf) : Wir können nicht
länger warten. Alle Quartiere sind zur neuen Ver-
teilung der Arbeit bereit. DRITTE REVOLUTI-
ONÄRIN: Ich glaube, wir haben nichts zu ver-
teilen. JÜNGER MENSCH: Ihr habt nichts?
ERSTE REVOLUTIONÄRIN: Nichts. JÜNGER
MENSCH: Ihr seid noch nicht fertig, während
wir auf euch warten? DRITTE REVOLUTIONÄ-
RIN: Wir wollen nicht. JÜNGER MENSCH:
77
Wollt nicht? Luft schlägt an mein Ohr? ZWEITE
REVOLUTIONÄRIN. Wir retten euch. JUNGER
MENSCH: Mit nichts! ERSTE REVOLUTIO iNÄ-
RIN: Wir helfen! JUNGER iMENSCH: Bin ich
unter den Führerinnen? Wisst ihr, was euch er-
wartet? Auf euch hahen wir unsere Verteidigung
gestellt. Und nun nichts? ZWEITE REVOLUTI-
ONÄRIN: Wir treten von der Leitung der Arbeit
zurück. JUNGER MENSCH: Zu Spät! ANNA:Nicht
zu spät für die Menschlieit! Jetzt seid ihr bereit!
ERSTE REVOLUTIONÄRIN: Ith gehe. In mir
brennt das Blut einer neuen Erde. Freundinnen,
zum erstenmal bin ich glücklich!
Die drei Revolutionärinnen gehen ah
Nach einem Augenblick draussen: Ungeheurer Lär-m
des Volkes
DIE STIMME DER ERSTEN REVOLUTIONÄ-
RIN: Menschheit! DIE STIMME DER ZWEI-
TEN REVOLUTIONÄRIN: Drüben . . . leben
. . . die Schwestern!
Lärm des Volkes
Stille draussen
FÜNFTE SZENE
Vorige, ohne die drei Revolutionärinnen,
und das Volk
JÜNGER MENSCH (zu Anna): Du bist das! Was
soll das! Wer bist du? Feinde werden beseitigt!
ANNA: Du siehst aus wie ein Freund. JÜNGER
MENSCH: Du sprichst, als hättest du ein eigenes
78
Recht — und bist doch genau wie alle anderen
Frauen. Heute machen wir keinen Unterschied
mehr! ANNA: Gerade weil ich bin wie alle an-
dern, spreche ich mit meinem eigenen Recht zu
dir. JUNGER MENSCH: Du bist nicht schön. Aber
etwas an dir reizt einen Mann. Komm! ANNA: Du
bist offen und schnell. JUNGER MENSCH: Was
bleibt einem heute? Vielleicht ist man eine Stunde
später tot. ANNA: Meine Zeit ist um. Leb wohl.
Nun muss ich fort. JUNGER MENSCH: Schon?
Warum schon? Komm zu mir, ich weiss einen
Platz für uns. ANNA: Nein, ich kenne einen
besseren als dich! JUNGER MENSCH: Oh. Alle
sind wie ich, es ist gleich. ANNA: Weisst du
nichts Besseres von dir? Alle Frauen sind wie ich.
Auch das ist gleich. Du brauchst nicht mich.
Aber ich such einen, der leben will, nicht sterben.
JÜNGER MENSCH: Wie soll das einer heute wis-
sen? Es ist gleich; ANNA: Du musst es wol-
len. JÜNGER MENSCH: Das kann unsereiner
nicht mehr, dazu haben wir keine Zeit. ANNA:
So schaff dir die Zeit. JUNGER MENSCH: Ich
muss arbeiten.
ANNA: Wahnsinn, wenn ich euch höre! Du Ar-
mer. Hast du denn noch das Auge, mich anzuse-
hen ? JUNGER MENSCH: Es ist wahr. Ich habe
mehr eine Lust von dir herüber gespürt. Ich sehe
dich jetzt zum erstenmal an. ANNA: Hast du
schon deine Hände zum erstenmal angesehen?
Hast du schon deine Arbeit zum erstenmal ange-
sehen? Deine Maschine? Deine Fabrik? Deinen
Weg am Morgen bis zur Nacht? Deine Genossen?
79
Deine Stadt? Die Welt draussen? JUNGER
MENSCH: und die Arbeit? ANNA: Die Arbeit
ist euer Tod! JUNGER MENSCH: Ah — nein,
das weiss ich schon: "wie sollen wir uns anders
aufrecht erhalten? ANNA: Ihr hallet eure Feinde
aufrecht, die Bürger. JUNGER MENSCH: Wir
können heute nicht mehr anders als arbeiten.
ANNA: Dazu hat dich deine Mutter geboren, dass
du nicht mehr anders kannst, dass du gehorchst,
dass du nicht weisst, was du tust? Du hast ja nicht
einmal Zeit und Fieiheit, mich anzuschauen und
deine Arme um meinen Hals zu legen! Deine
Arme? Deine Arme wissen längst nichts mehr von
dir seit deiner Kindheit — deine Beine sind nur
noch zum Stehen an der Maschine gut, dein Bauch
zum Verdauen, dein Glied zum Krankheitverbrei-
ten und zum Zeugen von Kindern, die so jämmer-
lich leben wie du selbst, und dein Kopf um über
der toten Beschäftigung deines Körpers zu wachen.
Du weisst nichts von dir, du weisst nichts von
mir. Was hast du vom Leben? JUNGER MENSCH:
Und wenn ich heute aufhöre? Morgen ist es wie-
der das Gleiche. Wir können nicht mehr heraus.
ANNA: Nein! Du bist nicht allein, Ihr alle müsst
aufhören. Ihr müsst alle einmal wieder wissen,
woher ihr kommt, dass ihr lebt, dass ihr Freiheit
habt, zu tun, was ihr wollt und nichts zu tun.
Sieh mich an. Bei mir hast du mehr als Lust: Du
hast die Freiheit.
JÜNGER MENSCH: Ich höre schon in meinem Ohr
eine andere Antwort rauschen, als ich dir sagen
wollte. Aber ich bin nicht allein, ich halte fest.
80
Wenn wir aufhören zu arbeiten, dann überrum-
pelt der Feind uns wie Kinder. Binden werden uns
die Bürger, fortschleppen, ermorden oder in die
Bergwerke schmeissen und zur Todesarbeit peit-
schen, sie würden in die Stadt dringen, ohne Wi-
derstand zu finden. ANNA: Ja, mein Freund, mein
Gehebter, lass mich deine Hüfte fühlen! Sie wür-
den kommen, ohne Widerstand zu finden. Wie
durch Kissen würden sie gehen, auf Weichem
würden sie schreiten — und darin versinken! Auf
unheimlich Weichem würden sie schreiten müssen!
Einer nach dem andern aus ihrem Heer sinkt ein
in eure Widerstandslosigkeit, einer nach dem an-
dern lässt die Hände sinken vor euren ruhenden
Händen. Einer nach dem andern hungert neben
eurem Hunger. Einer nach dem andern wird um-
gurgelt von der steigenden und steigenden Flut
der Gewaltlosigkeit. Schaut hin, ihr hattet die
Feinde mitten unter euch, und während sie noch
um sich schlugen, fielen ihnen die Waffen aus den
schreckzitternden Händen. Sie waren wissend ge-
worden. Sie waren wissend geworden von sich —
durch euch. Die Feinde sind zersplittert, versun-
ken, die Bürger sind verschwunden. — Ihr habt
die neuen Brüder unter euch! JÜNGER MENSCH:
Komm, ich weiss einen grünen Rasen mit Büschen
am Wasser. Dieser Abend wird so schön, die Sonne
ist noch rötlich da. ANNA: Du weisst es heut
zum erstenmal. Komm — ich muss bald fort, zu
den Brüdern. JÜNGER MENSCH: O, warum so
schnell! Kommt mit mir! Nimm dir doch Zeit,
Zeit, Zeit! Was hindert uns? Mach dich frei, wie
6 Rubiner, Die Gewaltlosen 8t
ich! ANNA: Nun weiss ich, dass die Erde nicht
verloren ist! — Korarti, (Beide ab.) JUNGER
MENSCH (im Abgehen): Frei! Frei! Keine Hand
arbeitet mehr! {ab.)
SECHSTE SZENE
Nauke / Der Führer der Bürger
Aus der Versenkung die Stimme des Nauke imd
des Bürgers.
STIMME DES FÜHRERS DER BÜRGER: Das ist
Licht. STIMME DES NADKE: Natürlich ist da
der Ausgang, ich wusste es ja! STIMME DES
FÜHRERS DER BÜRGER: Aber wenn wir mitten
hinein unter sie geraten ? Kann ich dir auch trauen ?
STIMME DES NAUKE: Ihr habt mir solang ge-
traut, wenn ihr's jetzt nicht mehr tut, ist es zu
spät! STIMME DES FÜHRERS DER BÜRGER:
Geh du vor! STIMME DES NAUKE: Wieder zu
spät. Ich bin dir durch den ganzen Gang voraus-
gekrochen, jetzt könnt ich beim besten Willen
nicht hinter euch gehen!
NAUKE (steigt aus der Versenkung herauf): Nie-
mand. Wir werden nicht überrascht. DER FÜH-
RER DER BÜRGER (steigt hinter Nauke herauf):
Das war eine verfluchte Wanderung, stundenlang
durch den engen, schleimigen Gang! NAUKE:
Was willst du? Was redest du? Ich hab vor euch
den Dreck im Gang an meinen Kleidern aufge-
wischt, und jetzt ist es euch nicht fein genug ge-
wesen. Bin ich dir vielleicht selbst zu schmutzig?
FÜHRER DER BÜRGER: Du nennst mich du?
82
NAUKE: Ho, Bürger, man nennt jeden du, mit
dem man etwas durchgemacht hat. FÜHRER
DER BÜRGER: Du hast mir versprochen, dass du
mich zu den Führern bringst. NAÜKE: Ich hab
schon einmal gesagt, ich nehme keine Belohnung.
Ich tu's aus reiner Menschenliebe. Verhandlungen,
ja. Geheime Verhandlungen: wunderschön. Aber
ihr wollt doch nicht etwa spionieren? FÜHRER
DER BÜRGER: Spionieren, mein Freund, da hätt'
ich dich gebeten — tätest du das nicht auch aus
reiner Menschenliebe? NAUKE: Was heisst das?
V^as wird das? Bürger, du beleidigst! Du hast
mich drüben am Ufer angeredet. Du hast mir ge-
sagt, dass du zu den Revolutionären gehen willst,
um sie mit euch zu versöhnen, aber ohne öffent-
lichen Lärm, ohne starre Haltung, als einfacher
Mensch. Ich habe dir den geheimen Zugang zur
Stadt gezeigt, denn du hast mir geschworen, dass
du nicht Missbrauch triebest. Alles um der Ver-
söhnung willen. Du weisst es. Warum sprichst du
nun krumm? Denke dir, hättest du es nicht mit
mir zu tun, ein anderer hätte dir schon lang eine
auf den Kopf gegeben. FÜHRER DER RÜRGER:
Eben weil ich es mit dir zu tun habe! Selbst wenn
ich spionieren würde, geschähe es nur zum Besten
der Revolutionäre. NAUKE: Das ist mir zu hoch.
Du bist doch ihr Feind? Warum rückt denn ihr
Bürger aus und belagert sie? FÜHRER DER
BÜRGER: Eben zum besten der armen, unwissen-
den Revolutionäre. NAUKE: Sie können selbst
wählen, was ihnen zum besten ist. FÜHRER DER
BÜRGER: Nein, dafür denken sie zu einfach. Sieh,
6* 83
man muss doppelt denken können, wie wir, drei-
fach denken muss man können, nach jeder Seite
hin. Kannst du doppelt denken? NAUKE: Nein,
ich kann nur ganz einfach denken, und auch das
nur mit Mühe, ich gestehe!
FÜHRER DER BÜRGER: Siehst du! Wir haben
gelernt, auf soviel Arten zu denken, wie es Zahlen
und Menschen gibt. Für jeden etwas. Darum wis-
sen wir Bürger besser, was für die Revolutionäre
gut ist, als sie selbst. Sie müssen sich mit uns ver-
söhnen. Aus Menschenliebe! NAUKE: Versöhnen,
Menschenliebe? Das versteh ich. FÜHRER DER
BÜRGER: Sie müssen damit anfangen, weil wir es
besser wissen. NAUKE: Das versteh ich nicht
mehr. Das ist gewiss schon das doppelte Denken.
FÜHRER DER BÜRGER: Wir werden jedermann
das doppelte Denken lehren, auch dich, mein
Freund. Wenn erst alle Revolutionäre doppelt
denken, nach rechts und nach links, dann ist die
Revolution zu Ende, alle sind wie wir, und das
Leben im Paradies beginnt. NAUKE: Das Leben
im Paradies? Was muss ich tun, damit wir schnell
dazu kommen?
FÜHRER DER BÜRGER: Da musst zwei Gesichter
machen. Eins für sie und eins für uns. Freund, ich
kenne dich, ich weiss wie gut du es meinst. Damit
das Glück bald kommt, müssen alle Revolutionäre
auf unserer Seite sein. Damit sie auf unserer Seite
sind, müssen sie in unseren Händen sein. Damit
sie in unseren Händen sind, müssen sie uns er-
geben sein. Das ist doch alles ganz klar. Und er-
geben sind sie, wenn sie ahnen, wie stark wir sind,
84
und wenn sie schwach werden. NAUKE: Stark
sein — und schwach werden? Das hab ich sclion
gehört, das sagten schon die Brüder auf dem Schiff.
Ich glaube, du bist mein Mann! FÜHRER DER
BÜRGER: Das weiss ich längst. — Damit sie
bereit werden, müssen sie Tag und Nacht unab-
lässig an der Maschine liegen. Unterdessen be-
raten wir uns mit ihren Führern, und ziehen sie
auf die Seite der Versöhnung, Wir erkunden die
Hilfskräfte und die Zugänge der Stadt — warum
gleich spionieren sagen?! — dann kommen wir.
Dann haben wir sie, dann belehren wir sie und
dann beginnt das Paradies. NAUKE: Dann be-
ginnt das Paradies? Und was kann ich dazu tun?
FÜHRER DER BÜRGER: O viel, mein Lieber. Du
gehst in die Fabriken, und machst dein fröhlich-
stes Gesicht: hundertfache Arbeit. Und dann vor
allem die Getreidespeicher, sehr wichtig, eine
Zündschnur — puff, die ganze Bude fliegt auf!
Sie müssen hungern, dass sie die Fliegen an der
Wand beneiden. Dann gehst du zu den Kämpfern
und machst ihnen begreiflich, wenn sie aufhören
die Revolution zu verteidigen, und uns endlich
herankommen lassen, oder wenn sie gar wie du,
mein lieber Freund, — zu uns herüberkommen,
dann beginnt das Paradies! Und vor Allem: Wir
liefern das Essen! Du sagst ihnen: Alles Essen,
was nicht von uns kommt, ist vergiftet. Nur wir
haben das gute Essen! NAUKE: So viel auf ein-
mal, das ist gewiss das doppelte Denken! Du hast
mich damals gewonnen, damit ich dich zu den
F^ührern bringe, für die Versöhnung. FÜHRER
85
DER BÜRGER: Aber wie? du willst dich davon-
machen? Hast du denn kein Gewissen? Du musst
doch mitarbeiten am Paradies? Tu du, was ich
dir gesagt habe, dann wirst du ein ganz grosser
Mann sein! NAUKE: Mein Gewissen, mir ist un-
heimlich. FÜHRER DER BÜRGER: Das ist noch
dein altes, dummes, billiges Gewissen. Ich lehre
dich doch gerade unser neues, feines, doppeltes
Gewissen! Jetzt den Weg zu den Führern. Mit
denen werd ich schon fertig. NAUKE: Den Weg
zu den Führern. Ich bring dich. FÜHRER DER
BÜRGER: Zeig ihn mir, ich finde ihn. Du hast
anderes zu tun ! Sag du den Revolutionären, was
ich dir gesagt habe. Dann werdet ihr alle glück-
lich! (Der Führer der Bürger und Nauke
im Abgehen.) NAUKE (itn Jhgehen): Hundert-
fache Arbeit, lustiges Gesiebt in den Fabriken,
Getreide hoch, Hunger, Versöhnung, den Anlang
machen: das bab ich schnell gemerkt, das war
wie auf dem Schiff. Aber dann: Ausliefern, zu den
Bürgern übergehen! das kommt hinzu. Das dop-
pelte Gewissen — das ist neu. Und dann kommt
das Paradies! (Beide ah.)
SIEBENTE SZEjSE
Der Gouverneur und der Mann treten in
Eile auf
DER MANN: Hier gingen sie. Es ist kein Zweifel.
DER GOUVERNEUR: Du bist sicher, dass es
Nauke war? DER MANN: Mit einem Feinde!
DER GOUVERNEUR: Was ist das? DER MANN:
86
Verrat ! Die Stadt ist verraten ! DER GOUVER-
NEUR: Verraten? DER MANN : Verraten. Mehr
noch, es ist nicht zu fassen : Von einem der Uns-
rigen. Wir sind verraten! DER GOUVERNEUR:
Schlimmer! Wir sind auch die Verräter! DER
MANN: ünmögUchkeit ! Zusammensturz ! Raserei !
Woher kommen wir? Welches Recht haben wir,
zu leben? Wenn das möghch war, hat alles keinen
Sinn mehr! Wenn das möglich war, hat nichts je
Sinn gehabt. Dann sind wir Betrüger, Betrüger!
DER GOUVERNEUR: Du weisst, dass es Sinn
hat, du weisst welchen Sinn. Aber vielleicht waren
wir lässig, vielleicht hochmütig, Verrat ist Miss-
verständnis. Dass Missverständnis möglich war? —
vielleicht hatten wir zu wenig Liebe? — Immer
wenn die Stunde gross wird, kommt Verrat. Ge-
rade den Verrat muss man überwinden. DER
MANN: Wie? DER GOUVERNEUR: Ihn un-
wichtig machen. Verrat kann nur gegen die Per-
son gehen. Aber verrate du das Volk? unmöglich.
Wir müssen den Verrat aus der Welt schaffen.
DER MANN: Aber er ist geschehen. DER GOU-
VERNEUR: Wir laufen ihm entgegen, wir kom-
men ihm zuvor, wir überbieten ihn. Wir stellen
uns ihm. DER MANN: Verhandeln mit den
Feinden, den Bürgern, den Generälen? DER
GOUVERNEUR: Nein, nicht verhandeln. Wir
geben uns dem Feind. Er fordert — wir geben
alles. Er fordert Waffen, wir legen sie hin. Er
will Geld, wir geben ihm, was da ist, er will Speise,
wir geben ihm die unsere. Er will unser Leben,
wir zeigen ihm, dass wir es opfern. Er kann nichts
87
mehr fordern. Er ist allein, und ihm bleibt nur
noch zu verlanf^en, dass er werde wie wir selbst, —
DER MANN: Und das Volk? DER GOUVER-
NEUR: Wir geben zurück, was wir vom Volk
empfingen. Wir bringen ihm Brüder, aber solange
die Brüder noch Feinde sind, werfen wir uns vor
sie, und wir opfern ihnen unser Schicksal ! — Zu
den Feinden! — Ich kreuze ihren Angriff. Ich
laufe durch die Stadt, und wo ich nur einen Wind-
stoss von bürgerlicher Luft wittre, da tret ich hin,
als ein Mensch, der die Ehre der Vergangenheit
nicht mehr hat. — Ich gehe zu den Feinden, den
Gang der Selbstvernichtung. (Gouverneur ah.)
DER MANN: Du gehst den Gang der Liebe. Ich
gehe zum Volk, den Gang der Zerstörung.
ACHTE SZENE
Der Mann / Klotz
KLOTZ f stürzt auf): Ich bin zu euch quer durch
die ganze Siadt gerannt. DER MANN: Dass du
kommst! — Dein Auge, dein Mund, ob dieses Volk
reif ist? — KLOTZ: Spring heraus aus deiner
Hirn weit, Freund! Wir müssen unter sie, arbeiten,
als hätt' jeder von uns tausend Leiber — sonst war
alles verloren! Aus Kellerlöchern komm ich hier,
von ünratswinkeln, aus Versammlungen, suchte
euch zusammen. Sie plündern, Menschen sind er-
schlagen, eigene Genossen auch. Raub wo ein
Bissen. Ein Zündholz ist Besitz. Und dabei geht
die Arbeit weiter. Eine unsichtbare Hand greift in
die Massen und treibt sie gegen ein Haus. Durch-
suchung. Zwei Schritte daneben läuft das Leben,
als sei seit Unendlichkeit nichts verändert. DER
MANN: Und alles spielt den Bürgern in die
Hände? KLOTZ: Das alles spielt den Feinden in
die Hände. Wenn nicht, eh noch die Bürger in die
Stadt dringen, eine Umkehr kommt, ungeheure
Umkehr geschieht, dann ist das Volk verloren.
Zerhackt wird alles, erstickt die Freiheit. DER
MANN: Kamerad, ist's jetzt nicht gleich, was ge-
schieht? Wird nicht ewig in diesem Volk die Idee
leben, wird nicht unsterblich unter ihnen die
Freiheit umhergehen? KLOTZ: Nein, nein, nein!
Das Schlimmste kommt, das Entsetzlichste: eine
Sklavenhorde. Die Freiheit wird ewig gestorben
sein. Wir taten noch nichts, nun müssen wir alles
tun. DER MANN: Alles tun, Kamerad. Ja, alles
in einem Augenblick. KLOTZ: Betrug! Wer das
sagt: Alles oder nichts! — denkt alles und bleibt
beim Nichts. Schritt für Schritt musst du vor-
gehen. Dein Leben hingeben ganz an die Tat —
selbst ohne Freude, nur um es zu geben!
DER MANN: Aber Plündern sagtest du! Raub! sie
morden ! Wo bleibt das ewige Bild des Menschen,
wo bleibt unsere ewige göttliche Abkunft, wo
bleibt das freie Menschenleben, dafür wir her-
kamen? Ich werfe mich ihnen vor den Weg!
KLOTZ: Nein, nie! Halte sie nicht. Wenn du sie
hältst, wenn du ihnen Licht predigst, um sie zu-
rückzuhalten, dienst du der Finsternis. DER
MANN: Aber Mord? Sie dienen dem Teufel.
KLOTZ: Nein, sie dienen Gott. Sie müssen hin-
durchgehen durch die Niedrigkeit, um die Nied-
89
rigkeit zu erkennen. Sie müssen sich beflecken,
um Reinheit sehen zu können. DER MANN: Aber
wofür zertrümmern sie? Wir, wir sind Brüder der
Gemeinschaft. Wir kämpfen für die Menschheit.
Aber sie, ihr Leben ist eine Blutlache. Und wofür?
KLOTZ: Auch sie für die Menschheit! DER MANN:
Und wir? W^as müssen wir also tun? KLOTZ:
Uns opfern. DER MANN: Untergehen? Befreit
von der Welt? KLOTZ: Nein, nicht befreit von
der Welt, sondern mit der Last aller Weltkugeln
des Himmels auf den Schultern. Nicht untergehen,
sondern unter sie gehen. Einer von ihnen werden.
DER MANN: W^ie — mit ihnen morden? In wel-
chen reissenden Absturz setzte ich den Fuss!
KLOTZ: Nicht das Morden! Wir morden nicht.
Nein — breite die Arme und schwimm unter ihnen .
Du musst ihre Welle verstärken, dass ihr grosser
Gleichstoss durch dich rinnt und nur mit dir noch
lebt! DER MANN: Aber wir sind die Führer.
KLOTZ: Lausche auf die Stimmen, die aus dem
Dunkel ans Tageslicht steigen. Höre das Geheim-
nis der Erde; Es gibt keine Führer. Führertum ist
Betrug! Du musst ein Teil sein, eine geringe Zelle
von ihnen; ein Zucken nur in ihren Muskeln.
DER MANN: Und das Letzte? Die Ewigkeit? Das
Unbedingte, daran nichts abzuschneiden ist? Die
Freiheit? KLOTZ: Mann, nur zu ihm musst du!
Zum Letzten, Höchsten, wovon wir stammen.
Aber hindurch musst du zu ihm durch unsere
endlichen, zeitlichen, befleckten Leiber, durch die
Schwierigkeit des Kleinen, durch den Schweiss
der Sünde. Alles musst du wollen, die allerletzte
90
grösste Freiheit der Menschen, so gross, dass sie
selber die Erdkugel durch den Raum schicken
können — musst es wollen, und musst wissen,
dass du es nach und nach erst machen wirst, von
Volk zu Volk, Stadt zu Stadt, von Mensch zu
Mensch. Hart ist das. Zu dem unendlichen Glück
der Menschheit müssen wir durch den ganzen
Trümmersturz des Menschseins. DER MANN: Und
du meinst, das ginge so leicht? Die Idee umgibt
uns mit einem Stachel panzer, wir können ihr nicht
folgen, ohne unsere Umgebung zu verwunden.
KLOTZ: Dreh ihn um den Stachel panzer; ver-
wunde nicht die andern, stich dich selbst! Unser
Opfer müssen wir bringen, unser eigenes Opfer.
DER MANN: Abtreten? KLOTZ: Mehr, mehr,
das ganze Dasein geben! Wir waren die Führer,
wir ragten auf, sandten Ströme von uns, die die
Massen bewegten. Das war unsere Sünde! Die
Welt wird neu. Wir haben kein Recht mehr, zu
sein. Wir dürfen nicht mehr da sein. Über uns
hinweg muss die Freiheit kommen. Nicht wir
mehr befreien die Menschen, sie selbst tun es auf
unserem Leib. Das Opfer unseres Lebens ist unsre
letzte Wahrheit — unsere erste Tat. Wir müssen
dahingehen, verschwinden — durch das Volk!
DER MANN: Verschwinden durch das Volk. Die
Welt, aus der wir kamen, ist versunken. KLOTZ:
Das Opfer unsres Lebens durch das Volk: Das
erst ist deine Liebe! Und nur dann wird unser
Blut in ihnen kreisen, dann erst wird unser Herz-
schlag im Volke ein Riesenstoss zum göttlichen
Geiste sein. DER MANN: Durch unser Opfer wird
91
die Welt neu! So lauf ich mit ihnen? Rase mit
ihnen durch die Strassen, breche Türen auf?
Schreie mit ihnen „Hunger!"? KLOTZ: Du
schreist „Hunger!" mit ihnen, und du weisst:
Freiheit.
NEUNTE SZENE
Vorige / Das Volk (draussen) / Später die
Frau /Zwei Gruppen des Volkes /Der Greis/
Der Bucklige / Der Krüppel / Ein Junge
DAS VOLK (draussen): Hunger!
(Die Frau bricht herein, hinter ihr und um sie ein
Knäuel von y o\k. Im Volk: Junge Burschen,
Greise, Männer, der Bucklige, der Krüppel
und die beiden alten Gefangenen.)
DIE FRAU: Verloren! Verloren, wenn wir nicht
retten! Die Führer sind weich, verhandeln. Die
Bürger sind in der Siadt: in allen Ecken stecken
sie mit den Führern. Das Volk wird verraten, wie
man eine Nuss vom Baum schüttelt. STIMMEN
AUS DER EINEN GRUPPE DES VOLKES: Hier-
her. Ihr nach! STIMMEN AUS DER ANDERN
GRUPPE DES VOLKES: Warum ihr nach? Wir
kennen sie nicht! STIMMEN ADS DER ERSTEN
GRUPPE: Eine Frau! Die weiss immer wo es Essen
gibt! STIMMEN AUS DER ANDERN GRUPPE:
Ihr seid Opfer bei jedem Verrat! STIMMEN AUS
DER ERSTEN GRUPPE: Ihr seid Opfer bei jeder
Lüge! DER MANN; Lüge und Verrat! Ihr seid
mitten drin! EIN GREIS AUS DEM VOLK: Was
können sie uns antun? Wir haben nichts zu geben.
92
EIN JUNGE AUS DEM VOLK: Wir können's uur
besser haben. DER KRÜPPEL: Lüge — war das
erste freundliche Wort, das haben wir noch nie
gehört. DER BUCKLIGE: Nie gehört? Wir ha-
ben nichts anderes gehört. So haben sie uns immer
gefangen ! D E R J U N G E : Es ist gleich. Wir haben
nichts zu verheren ! D E R G R E I S : Nichts zu ver-
lieren! Du Nachschwätzer! Du Lügner! Alles,
alles: Das Leben! Das Leben! Das Leben! —
Könnte man sich endlich doch ausruhen! DER
MANN: Ausruhen! Ihr sollt ausruhen! Die Hände
sinken lassen, sie beschauen. Nicht in gespanntem
Zittern warten auf den nächsten Pfiff zur Arbeit.
DER GREIS: Und leben? DER MANN: Dann
gerade werdet ihr leben. Aber so leben die Feinde
von euch!
DERBUCKLIGE (zu Mann, Klotz, Frau): Was
tretet ihr uns entgegen? Was wollt ihr von uns?
DAS GANZE VOLK: Was wollt ihr von uns?
DIE FRAU: Ah! Misstrauen! DER MANN,
KLOTZ: Misstrauen ! ERSTERGEFANGENER:
Halt, es sind Kameraden! Ich bürge für sie. Ihr
kennt mich. Meine Jahre sind im Gefängnis ge-
blieben, für euch. Ihr wisst es. DER BUCKLIGE:
Vergangenheit. Das gilt nicht mehr. Wir haben
nichts von euren Gefängnissen. DER KRÜPPEL:
Ihr seid selbst Bürger! Ihr seid so fern von uns
wie die andern: ihr seid gerad so glatt und lau
wie sie! KLOTZ: Lau? Wer ist lau? Du, Volk,
bist weich und sie machen mit dir in ihren Hän-
den was sie mögen! DAS VOLK: Wir wollen
Leben! Leben!
93
ZEHNTE SZENE
Vorige / Nauke
NAUKE (stolpert herein mit einem Pack Papier in
der HandJ: Ich habe es! Ich habe es! Ich habe es!
Ich habe Essen für jeden. DAS VOLK (stürzt auf
ihn): Flugblätter! NAUKE : Ich weiss Essen ! Ich
weiss gute Leute! Es ist für jeden da! Wer kommt
mit mir? Hier! (Er wirft die Flugblätter imters
Volk^ auch auj den Boden) dass ihr wisst, was ihr
tun müsst! (Volk: leichtes Getümmel um die Flug-
blätter.) DER MANN: Du willst sie preisgeben!
NAÜKE: Ich will sie retten! KLOTZ (zian Volk):
Glaubt es nicht! Es ist nicht wahr! Ihr werdet
betrogen! Sie lügen euch an. Nicht einmal das
Essen^ das sie euch versprechen, werden sie euch
geben! Ich weiss es: Ihr rast in die Sklaverei!
DER MANN: Ich beschwöre euch, haltet nur so-
lang aus, bis ihr seht, dass die Bürger logen!
NAUKE: Mit mir. Das Leiden ist aus! VOLK
(Jubelgeschrei): Leben! (Nauke ab. Das Volk
um ihn., stürzt mit ihm hinaus.)
ELFTE SZENE
Vorige ohne Nauke und das Volk
KLOTZ: Er führt sie zu den Bürgern. Nun ist der
Augenblick. Jetzt darf unser Leben nichts mehr
sein. Jetzt unsere Kraft ins Volk! DER MANN:
Schnell, sie zurückhalten! KLOTZ: Wir können
nicht mehr zurückhalten. Wir müssen die ganze
Stadt umwerfen, sprengen ! DER MANN : O, wenn
94
sie nur ein Wort verhandeln, ist es zu spät!
KLOTZ: Es darf nicht zu spät sein. Jeder einzelne
von ihnen muss eine Sekunde lang nur von sich
wieder wissen. Dann ist alles gewonnen. DER
MANN: Unser Wille! Herauf! KLOTZ: Millio-
nenfach müssen wir uns teilen, und jeder Bluts-
tropfen von uns muss auf einen Menschen geschleu-
dert werden und ihm Freund sein, DER MANN :
Schnell, ihnen nach!
(Klotz und der Mann ab.)
ZWÖLFTE SZENE
Die Frau
DIE FRAU (alleinj: Misstrauen. — Hunger. —
Die Luft um mich braust von Menschen, um-
krampft halten sie sich keuchend ineinanderge-
bissen im Kampf. Eine Höhle von Brausen ist um
mich. Schwarzer Wind von Nachtstimmen. —
Lärm, Schreie. Wie heraus? Zu den andern? —
Hört ihr mich? Kann ich euch ein Wort von mir
hinüber durch die Mauern werfen? Kann ich mich
tausendfach durch den Stürm zu euch hinwehen?
— Ah — hier ist eine Zunge, die für euch redet!
(Sie hebt eines der Flugblätter, das Nauke zur Erde
Jallen Hess, auf.J Papier, Gedrucktes.
Ein Aufruf — ah, und das hilft? Hilft das? Wissen
sie darnach, wohin sie gehen? f Liest J: „Volk! Die
Stunde deines Glückes ist da! Nimm dir deine
Rechte. Nimm dir selbst die Freiheit, deren du
dich würdig fühlst." (unterbricht sich im Lesen):
In diesen Buchstaben, das Schwarze zwischen dem
95
Weissen, reckt sich dunkles Grinsen. — Betrug!
— Da müsste stehen: „Mensch!" „Mensch" —
dann hätte es mich gestossen, dann würde ich es
glauben! „Mensch, nimm dir selbst die Freiheit."
Ich seh es, ich sehe, was da steht — Betrug! (liest):
y,. . . deinen Gegnern die Hand reichen ... sie
sind nicht deine Gegner . . . Arbeit aufnehmen . . .
Heute abend grosse Verteilung von Lebensmitteln.
. . . Zeichen der Versöhnung . . . der Kampf ist
beendet ..." fsie knüllt den Zettel zusammen): Be-
trug! Und ich bin inmitten, während hunderttau-
send Hände diese Blätter ergreifen. Diese Woi'te
stürzen in müde, widerstandslose Augen, Männer
sprechen sie zu Frauen, Frauen schreien sie als
Hoffnung weiter! O, nur helfen, helfen, dass ein
Wille mit Händen und brennenden Flammen über
dieses Papier hinsaust und die Lüge herausätzt,
eh sie die Adern der Menschen frisst! Mensch!
Mensch nimm dir selbst die Freiheit!
Mensch, du bist im Dunkel. Die Finsternis ist
deine Wohnung: Du öffnest den Mund heraus aus
deiner schwarzen Höhle, um nur zu fressen, und
du schluckst einen Tropfen Licht ein. Du ergiesst
dein Geschlecht in der bittersten Nacht, und ein
Flammenlicht streicht an dir vorbei! Mensch, dein
Geist fliegt im Licht! Ich rufe deinen Geist! Mensch,
ich rufe deine Liebe! Mensch, fahr aus dir auf!
Höre mich, Arbeiter! Du schlingst täglich, du
weisslich zitternder Wurzelbaum, deine Arme um
die Maschine; Arbeiter, Geist in dir, du bistMensch!
Du presst dich täglich, wie ein kranker Zweig
über den Tisch, und rechnest ; Mensch, lass deine
96
Bücher vor dir versinken! Du stehst täghch an
einem Pult und redest zu den Armen, Mensch,
hauche dein Licht in das Wort für die Brüder.
Männer, Frauen, Arbeiter, Verfolgte, Getriebene,
ihr im Dunkel, in den Fabriken, in den Stuben,
am Hunger kaum dass ihr euch besinnt, herauf
aus dem Dunkel. Ich rufe zu euch. Fliegt durch
das Licht. Ihr seid das Licht. Herauf gegen das
Dunkel. Brüder, Schwestern! Empörung gegen
das Dunkel! Empörung! Freiheit! Menschen! Frei-
heit I fSie stÜ7'zt niede?\J
DREIZEHNTE SZENE
Die Frau / Der Mann
DEB MANN ft7ntt auf, von rechts): Geliebte, meine
Seele, mein Leib, meine Freundin! Lass mich dich
halten, und fest an mich tun. Ich streichle dich.
Ich lege meinen Kopf auf dich und höre deinen
Atem. O sprich zu mir. Du bist mit mir mein ganzes
Leben gegangen, als ich aufgewacht bin. Du hast
den Kopf zurückgeworfen, und über die Menschen
geschaut, wenn ich schwach wurde. Du warst
trotzig, dein Trotz hat mich vorwärts getrieben,
wenn ich klein war. Du warst fest, ob du auch
krank und matt warst, wenn ich schwankte. Du
hast geglaubt, und ich habe geglaubt. Mein Lieb-
stes, mein Mensch, meine Schwester, meine Frau,
meine Kameradin! Jetzt drück dich an mich, jetzt
gib mir deine zärtliche Hand. Meine Stunde ist
da. Unsere Stunde ist da. Ich werde hin müssen,
7 Rubiner, Die Gewaltlosen 97
mich aufgeben im Blut. Sterben. Ich weiss e>.
Nichts andres hilft mehr. Der Feind ist mitten
unter uns. Mitten in der Stadt. Ich stosse überall
auf ihn, ich kann ihn nicht greifen, er ist unsicht-
bar. Das ist nicht mehr Verrat! nicht mehr ein
Einzelner ist abgefallen. Sie siegen! Sie zersetzen
die Stadt; sie durchdringen die Leiber und die
Willen und lähmen siel Das ist Untergang. DIE
FRAU: Mein Liebster. Das ist auch meine Stunde.
Was tust du? DER MANN: Die Stadt oder ich!
Und vielleicht, \venn ich mein Leben zersprenge,
brechen sie auf mit mir, unsere Brüder von der
Er^veckung opfern sich ganz hin; und ich weiss,
unser Atem wird in das Volk strömen, und sie
alle zu freien Menschen emporbrennen! DIE FRAU:
Du willst, und ich will !
VIERZEHISTE SZENE
Vorige / Der Kranke
Der kranke Schiffsgefangene tritt aus der
Versenkimg auf.
DER SCHIFFSGEFANGENE: Endhch finde ich
euch. Aus dem Heer der Bürger schicken sie mich
zu den Sternbrüdern. DER MANN: Du bist es?
Du sahst uns am Schiff, wusstest du darnach nicht,
dass wir nicht maklern und nicht verraten? Die
Bürgerbotschaft ist unseren Ohren ein hohler Schall.
Du warst in unsrer Gemeinschaft. Warum tratest
du zu den Bürgern, den Feinden? DER SCHIFFS-
98
GEFANGENE: Ich trat nicht zu den Bürgern. Ich
gehöre zu euch. Ich bin von den Kleinen, nichts
an mir fiel den Misstrauischen auf. Ich bringe
euch Gutes: Drüben die Armee der Feinde ist
nicht mehr fest, die ist nicht mehr ein drohen-
der Wald mit den zahllosen Stahlbäumen. Das
Heer wird schwach. Tausende der Frauen aus
dem Volk der Bürgerarmee rufen heute ihren
Soldaten das Wort nach : „ Menschen ! " Die Männer
recken die Fäuste zur Empörung, und man kann
sie nicht mehr niederschlagen. Redner stehen plötz-
lich vor den Massen und rufen Hohn und War-
nung über die Waffen. Das Heer der Bürger ist
schwankend. Wir, die im stillen ihnen Zweifel
einflüstern, haben Freunde. Ihr in der Stadt habt
draussen Freunde. Hört mich : Sammelt alle Kraft,
die ihr hier noch findet, macht einen Ausfall. Ein
grosser Angriff von euch, der letzte Tag der Ge-
walt, und ihr habt den Sieg über die Bürger!
DER MANN: Du kamst als Freund. Aber du irrst:
Wir bleiben.
DER SCHIFFSGEFANGENE: Ihr bleibt? Ihr seid
zu schwach? Das meint ihr nur. Ich sag euch dies:
Auch die schwächste Macht, wenn ihr sie jetzt
entschlossen aus der Stadt vorwärts treibt, hat
den Sieg über dies Heer. DER MANN: Wir bleiben .
DER SGHIFFSGEFANGENE fzur FrauJ: Hilf du
mir. Die Frauen drüben sind nicht aufzuhalten in
ihrem Ausbruch. DIE FRAU: Die Mauern fallen.
DER SCHIFFSGEFANGENE (zur FrauJ: Sie hal-
ten das Heer zurück. Ihr miüsst sie bezwingen.
Eifere du, dass eure Männer kämpfen. DIE FRAU:
f 99
Ich rief sie. Ich weiss, dass es andere Mächte gibt,
als den Sieg. Ich rufe nicht zum Kampf. DER
SCHIFFSGEFANGENE: Ihr wollt nicht kämpfen?
Dann kommt zu uns. Ruft die Brüder zusammen.
Alle müssen herüber zu uns. Verlasst die Stadt in
Verkleidungen durch den unterirdischen Gang.
Mischt euch unter das Volk, dringt ins Heer —
sendet Angst und Verzweiflung unter das Volk
drüben und in die Herzen der Soldaten. Ihr könnt
das. Macht, dass sie zerfallen, dass sie unterein-
ander sich morden. DER MANN: Nicht das ist
unser Wille. Wir bleiben. DER SCHIFFSGEFAN-
GENE: So hört mein letztes Wort, vom Freund, den
ihr brüderlich gerettet habt. Kommt, kommt! Und
sei es nur, um die Stadt zu verlassen. Wir ver-
stecken euch. Wir retten euch. Bei uns drüben
jenseits der Wälle und der Gräben, auf den wei-
ten Ländern, seid ihr gerettet. Hier, inmitten der
Tatenlosigkeit, findet ihr den gewissen Tod, mit-
sammen dem Tod der Stadt. DER MANN: Unsere
Tat ist anders als die der Faust. Unsere Tat ist:
Zu bleiben. DER SCHIFFSGEFANGENE: Ich
kenne nur eure Bruderliebe, ich weiss nicht, wie
stark ihr seid. Ich bin nur Einer aus den Vielen,
ich habe euch Bericht zu sagen. Mehr vermag ich
nicht. Aber dass ihr nicht kämpft, dass ihr bleibt,
ist euer Verderben! DIE FRAü: Geh zurück und
sag ihnen, dass wir nicht kämpfen. Sag es jedem,
der noch lebendig hört. Ich weiss: dies wird grösser
sein als eine Schlacht. DER MANN: Sag ihnen,
dass du uns den Tod gezeigt hast. Wir bleiben.
100
FÜNFZEHNTE SZENE
Vorige / Anna
ANNA ftri'tl auf): Freunde, es beginnt! Die ersten
Fabriken stehen still! DER MANN: Endlich! (Zum
Schiß sgejangenen:) Eile! Schnell du zu den Deinen.
Ruf ihnen zu von uns: „Die Arbeit ruht!" Nehmt
eure Hände von den Maschinen und streckt sie
uns herüber! — Auf der ganzen Erde, bald, um-
armen sich Brüder! — Nun mehr als je, bleiben
wir. Es ist der letzte Feuergang: Hindurch!
Ende des dritten Aktes.
lOI
VIERTER ART
Schauplatz wie im dritten Akt
ERSTE SZENE
Nauke / Der Führer der Bürger / Die drei
Bürger
Nauke tritt auf. Mit ihm der Führer der Bür-
ger und drei andere Bürger.
NAUKE fzu den Bürgern): Ihr werdet es sehen,
ihr werdet es glauben! Ich sag es euch! Ich besitze
die grosse Macht, ich befehle dem Willen. Ihr seht
mir das nicht an? Ihr zweifelt an mir? Ihr haltet
mich für einen einfachen Mann? Ich sage euch,
ich kann es, ich hab es gelernt; ich weiss, wie
man's macht, ich war oft genug dabei auf unserer
Fahrt. Nur gut wollen, und man hat Jeden. Das
Volk? Ihr wollt, dass das Volk nachgibt, die Arbeit
aufnimmt, und dass sie milchzahm wie Kälber
hinter euch herlaufen ! ? Sofort. Ich streife mir die
Ärmel auf, ich rufe an, ich beschwöre — und eine
Minute später habt ihr s! DER FÜHRER DER
BÜRGER: Wir verstehen das nicht. Wenn du tun
kannst, wie du redest, wirst du belohnt. Aber es
ist das letzte Mal, dass wir auf dich hören. Wir
irren seit Stunden durch die Stadt, und wir wissen
nicht, warum wir nichts ausrichten. VV^ir haben
den Besitz, wir haben die Macht, wir haben die
Waffen, wir können alle zugrunde gehen lassen,
102
die Widerstand leisten, — und wir sehen nicht,
wohin. Der Widerstand rückt breiig weich zurück.
Wir sind am Ende. Jetzt, jetzt müssen wir siegen,
sonst haben wir ums Nichts gekämpft.
ZW^EITE SZENE
Vorige / Der Mann / Die Frau
Der Mann vnd die Frau treten unbemerkt auf.
DER MANN fün Hintergrund): Ah, — dort, die
Bürger ! Endlich, endlich zu greifen ! Endlich ihnen
gegenüber! NAUKE (zu den Bür^gernJ: Bürger,
ich helf euch, wie ich es versprach. Und nun bin
ich Gouverneur und Sohn des Geistes! (Macht
wichtige Gebärden:) Auf, Volk, höre mich! Ich be-
fehle deinem Geiste ! Hier stehe ich, ein Sohn des
Geistes, und ich gebiete dir mit meinem Willen!
(Wichtige Gebärden im Kreise. — Stille. — J Alles
bleibt still. Gutes Zeichen. — Auf, Volk, tu, was
ich dir sage und was ich will. Ich beschwöre dich
bei Totenkopf und gekreuzten Knochen: Folge
mir! Hier stehen deine Wohltäter! Sie sind reich,
und können dich beschenken, sie sind mächtig und
können dich in ihre Dienste nehmen, sie sind be-
waffnet und können dir das Leben lassen! Auf,
Volk, Geist des Volkes, gehorch ihnen, folge ihnen!
Erscheine, erscheine! DER MANN (tiitt hervor):
Schweig mit deinem Kram. NAÜKE: Ich wusste
es! Gewonnen, sie kommen! Das ist der Wille.
DER MANN: Das ist nicht der Wille, das ist Miss-
verstand! Ein Verräter weiss nie das Ziel, das die
Herzen der Menschen emporreisst. Geh ! was du
io3
treibst, ist Jahrmarkt! FÜHRER DER BÜRGER:Wer
bist du? Bist du zupacken? DER MANN: Ihr da,
Bürger! Ihr steht in euren Masken, als wäret ihr
erfundene Maschinen, um die Welt schauern zu
lehren! Was ihr seid, wissen wir. Bomben tragt
ihr auf dem Rücken, und wenn ihr sie gegen uns
werft, springt nur diese Erde entzwei in ärmlichen
Schutt und ewige Verwesung. Ihr könnt uns mor-
den; ihr erstickt nicht den ewigen Menschen!
FÜHRER DER BÜRGER: Bist du die Macht, die
in der Stadt gegen uns wirkt, die wir nicht sehen
und nicht finden können? DER MA1\N: Die Macht?
Die Macht seid ihr! Ich bin die Machtlosigkeit!
Wir sind die heilige Machtlosigkeit, in die ihr
ohne Halt hineinstürzt, und je mebr ihr presst und
mordet, um so mehr umhüllt euch unsere göttliche
Machtlosigkeit und ihr gleitet eine glatte Schräge
hinab in die Höhle, aus der ihr nicht mehr her-
ausfindet! Wer seid ihr? Schlagt eure Masken zu-
rück, die finsteren Masken, die ihr zum Schutz
vor uns tragt! Herunter mit euren widerlichen
Grauens-Masken, Bürger, dass man euch ins Ge-
sicht sieht. Herunter! Und man sieht: aus eurer
Furcht- und Schreckensrüstung quillt das ganz ge-
wöhnliche, platte, niedrig fleischige Bürgergesicht !
DRITTE SZENE
Vorige
Es treten auf: Der Gouverneur, Klotz, Anna,
Offizier, die beiden alten Gefangenen.
FÜHRER DER BÜRGER: Du sprichst als Feind.
Ich weiss nicht, warum du feindlich bist, — was
104
wollt ihr? Wir verstehen es nicht. Wir wollen
eure Freundschaft. W^ir wollen euch glücklich
machen! DER MANN: Ihr hört in uns nur den
Feind, weil ihr uns nicht versteht. Ihr versteht
uns nicht, weil ihr nicht wissen wollt, dasswirdie
ewige W^ahrheit des Lichts in alle Zukunft sind !
FÜHRER DER BÜRGER: Ah, nur ihr seid die
Wahrheit, und wir sind nichts. Ist das eure Ge-
rechtigkeit? DER MANN: Die höchste Gerechtig-
keit, göttliche Erden-Gerechtigkeit! Wir, die Söhne
der Erde, wir, das Volk, sind die Wahrheit. Und
ihr, nein, ihr seid es nicht, ihr seid die Gewalt,
und die Bestechung, und die Knebelung, und der
Verrat, und die Maske der Finsternis! FÜHRER
DER BÜRGER: Wir wollen euch glücklich machen.
Und euer Glück ist das nichts? DER MANN:
Nichts! Wir brauchen euer Glück 'nicht. Es gibt
kein Glück. Es gibt nur unser Leben, und unsere
Arbeit und^ unsere Schöpfung. Das Glück ist euer
Köder. Glück, das habt ihr erdacht, um uns zu
kaufen! FÜHRER DER BÜRGER : Nenn es kau-
fen — wir sagen Vertrag. DIE ANDEREN BÜR-
GER: Vertrag! FÜHRER DER BÜRGER: Fordert.
Wir geben euch. Wir machen euch reich und satt.
Wir geben euch Amter und Wagen, wir zahlen
euch zu und geben euch Macht. DIE ANDEREN
BÜRGER: Ämter! Macht! DER MANN: Was
wollt ihr dafür? FÜHRER DER BÜRGER: End-
lich, dieses Wort! — W^ir wollen das Volk. Sprecht
zum Volk. Macht, dass es ist, wie es früher war,
wie es immer war! Dann hat es das Glück. DER
MANN: Wir dürfen nicht. FÜHRER DER BÜR-
io5
GER: Dürft nicht? Ihr? Und seid doch die Führer!
DER MANN: Wir sind nicht die Führer. FÜHRER
DER BÜRGER: Ihr seid nicht die Führer? —
Dann — wo sind die Führer? DIE ANDEREN
BÜRGER: Eile. Die Führer!
DER MANN: Irgendwo gab es einmal Führer. Es
gibt keine Führer mehr. Wir sind Menschen. Wir
sind vom Volk. Ihr wollt uns kaufen? Ihr kauftet
nur Einzelne, Wesen, die absterben, wie ihr im
Moment, da ihr sie kauft. Nie werdet ihr das Volk
kaufen! FÜHRER DER BÜRGER: Und wenn ihr
die Führer nicht seid, wenn Führer nicht mehr
sind — was will das Volk? DER MANN: Das
Volk will leben. Leben miteinander. Freiheit. Neue
Völker zeugen. Die Erde, auf der wir stehen, zu
einem einzigen Leib machen, zum Leib des Him-
mels, der empfängt und gebiert, der seine Nahrung
strömt für alle, die er gebar. FÜHRER DERB Ü R-
GER: Schwärmt. Aber wir haben die Macht.
DIE ANDEREN BÜRGER : Macht! DER MANN:
Ich schwärme nicht mehr. Die Wirklichkeit hat
begonnen — die Macht ist aus. Wir wollen die
Macht nicht, wir brauchen die Macht nicht mehr.
Eure Macht hat verloren. Wir, die Machtlosen,
wir, die nichts haben als uuser Leben, unsern
Willen, unsere Hände, Millionen Menschenhände,
wir kneten schon an unserer neuen Erde — und
ihr droht uns die Macht? Ich zerblase eure Macht,
eure Rüstungen, eure schweren Fleischklumpen,
wir zerblasen eure Drohung ! FÜHRER DER
BÜRGER: Das sind Fremde. DERMANN:Euch
ist jeder fremd, der die Zukunft schafft. Ihr seid
io6
Einzelne, ihr wollt die ruchlose Macht tiir den
Einzelnen. Wir sind das Volk, wir wollen nur das
Leben.
FÜHRER DER BÜRGER: Feindschaft also? DER
MANN: Eure Feindschaft zerstört euch selbst.
Eure Feindschaft lebt nur noch bei euch; uns ist
sie vergangen, uns ist sie verweht und vergessen,
wie eure Giftgase, die einmal noch unsere Freunde
morden konnten, aber die dann in die Luft zer-
strömten und rück auf euch euer eigenes Gewissen
zerätzten. Ihr seid uns nicht mehr Gefahr. Wir
haben das neue künftige Leben uns selbst abzu-
kämpfen. Zurück mit euch in die Reihen eurer
Auflösung, hinab mit euch in die Dunkelheit eurer
Gewalt. Vernichtet seid ihr. Geht ! DIE ANDE-
REN BÜRGER: Kampf! DER MANN: Zu spät!
(Die drei Bürger tauchen in die Versenkung.)
DIE FRAU, ANNA, GOUVERNEUR, KLOTZ,
OFFIZIER, DIE BEIDEN ALTEN GEFANGE-
NEN (jubelnd): Zxm^diÜ FÜHRER DER BÜR-
G ER (zu Nauke): Du vermochtest nichts. Prahlerei.
Du hast gelogen. Du hast uns betrogen! (Zu den
Brüdern:) Ihr kamt selbst vom Bürger — nun be-
kämpft ihr den Bürger! Aber hütet euch vor der
vStunde eures Lebens, wo ihr hinter den Kampf
blickt und erkennen werdet, dass der Sturz der
Bürger euer eigener Fall ist! DER MANN: Das
ist nicht Drohung, das ist Hoffnung! Geht eure
Vernichtung nur über unsern eignen Sturz? So
reissen wir unser Leben heraus aus dieser Welt!
FÜHRER DER BÜRGER: Die Zeit reisst ihr mit
den Wurzeln aus der Erde! DER MANN: Deine
107
Zeit ist verwest! Eine neue Ewigkeit beginnt!
FÜHRER DER BÜRGER: Ihr lehrt uns Gewalt-
losigkeit — damit habt ihr alle Gewalt der Welt
gegen euch! Stirb in deiner neuen Ewigkeit! (Den
andern Bärgern nach. Ah. Nauke bleibt.)
VIERTE SZENE
Vorige ohne den Bürger und die drei Bürger
DER MANN: Die Gewalt gegen uns — die letzte
Gewalt! NAUKE (hinter den Bürgern herj: Ich
verstehe nicht. Auf dem Schiff ist es immer ge-
gangen. So bleibe doch, so höre doch. Ich versuch
es noch einmal — früher ist es doch immer ge-
glückt! — Er ist fort! VV^as ist denn das? Was
mach ich denn ? Ich verstehe nicht ! f Erblicht die
Brüder. J Ah, ihr! Sagt mir, wie kommt es, dass
ich's nicht traf? Ich fühlte, wie mein Wille an die
Luft prallte und zerbrach. Was geschah ? Ich ver-
steh nicht. Ich tat, was wir auf dem Schiffe taten,
und diesmal ging es nicht! Sagt mir! — DIE
FRAU: Uns fragst du ? Du ? Ein Verräter 1 NAUKE:
Ah — ja! Ich vergass! Ihr nennt mich Verräter.
Aber wenn ich tue wie ihr — ist es dann nicht
gleich, wozu? KLOTZ: Nein, es ist nicht gleich.
Du nahmst unsere Worte — aber ohne unser Ziel
sind sie tote Leichenhüllen — und dientest mit
ihnen den Feinden ! Verräter ! NAUKE: Verräter !
— Verräter! So leicht wird das gesagt. Verräter?
Aber ich verstehe nicht! DER GOUVERNEUR:
Was wir in Gemeinschaft tun müssen für alle, in
höchster Liebe und in der Hingabe des Herzens
io8
und des Lebens, das tatest du allein, als Einzelner,
aus Machtlust und Betrug. Um Lohn. F'ür die
Gewalt ! Darum Verräter ! N A U K E : Ich verstehe
nicht. Ich tat wie ihr. Wo ist der Betrug? (Sieht
auf die beiden alten Gefangenen) Sind die beiden
Alten mehr als ich? (Sieht auf den Offizier) Ist
der Junge stärker als ich? (Auf Anna) Bei der
lag ich — ist die grösser als ich? Ihr sagt, ich ein
Verräter? Ah, es wird klar, ihr habt mich heim-
lich umstellt, ihr habt mich in eine Falle gelockt,
um mich schwach zu machen, um mir mein Echo
zu zerschneiden, um mich blosszustellen! Ich Be-
trug!? Ihr seid die Betrüger! Ihr habt vor mir ge-
gaukelt und habt mich glauben lassen, auch ich
könnte wie ihr. Betrüger! Verräter, Verräter —
ihr! Feinde sagt ihr? Den Feinden dien ich? Den
Bürgern? Und ihr? — ihr Lügner! Bürger seid ihr,
ihr selbst! Bürger! Ausbeuter. (Zuni^Mann:) Du
Du bist ein Bürgersöhnchen! (Zu Klotz:) Du bist
ein Geheimredner und treibst Volksschacher!
(Zum Gouverjieur:) Du bist ein ehemaliger Gou-
verneur — das kannst du nie vergessen ! Ihr habt
mich verlockt, ihr habt mich betrogen, ihr habt
mich um mein frohes Leben gebracht. Ich ver-
fluche euch. Ich hasse euch! Ihr sollt es zahlen!
Volk, Volk, hier sind deine Feinde, hier sind
deine Ausbeuter, hier sind die Bürger. Die Betrü-
ger. Die Verräter. (Er stürzt hinaus. Von draussen:)
Volk, Volk! Greif die Betrüger!
109
FÜNFTE SZENE
Vorige ohne Nauke
ERSTER ALTER GEFANGENER: Einmal war er
ein Kamerad ! DER MANN : Waren wir selbst nicht
damals in Verwesung, Grab, Irre? KLOTZ: Das
Gewesene ist abgefallen wie der alte Leib aus der
Vergangenheit. Heut sind wir sehnig. Nicht ein-
mal Verzweiflung treibt uns heut mehr. Wir haben
die Gewissheit. Heut gilt es unser Letztes, unsern
Willen, und das höchste Wunder oder den Unter-
gang! ERSTER ALTER GEFANGENER (^/aw-
schetidj : Sie kommen. Das Volk. Sein Puls beginnt
zu schlagen!
SECHSTE SZENE
Vorige / Volk / Der junge Mensch
Einige vom Volk kommen: Ich friere heute. —
Ich arbeite nicht weiter. — Nein, ich rühre keine
Hand mehr! JÜNGER MENSCH f stürzt auf):
Eine Zeitung, ich will eine Zeitung haben! Ich
habe endlos lange keine Zeitung mehr gesehen !
W^er hat eine Zeitung? ERSTER ALTER GE-
FANGENER: Was soll jetzt eine Zeitung? JUNGER
MENSCH: O du begreifst nicht! Ich muss sehen,
was in der Welt vorgeht! ERSTER ALTER GE-
FANGENER: Hier unter euch geht am meisten vor!
Jünger MENSCH: Wir wissen das nicht. Die
Gerüchte sausen wie die W^olken über unsere Köpfe
hin. Einige sagen, die Bürger sind mitten unter
uns und haben unsichtbar jeden Punkt der Stadt
110
besetzt, um uns alle niederzumachen. Dann heisst
es wieder, wir hätten Beistand bekommen: eine
Gemeinschaft von Mannern und Frauen, die keiner
kennt, seien da. Sie bringen Licht und Heizung
und Essen, soviel man nur braucht — Brot! Und
dann haben sie unendliche Mengen Munition und
neue Waffen, mit denen man die grössten Heere
niederschlägt. DER MANN: Brot, sagst du, hätten
die Brüder. JUNGER MENSCH: Ja, die Brüder,
das sind sie! GOUVERNEUR: Und Waffen?
JUNGER MENSCH: Wüssten wir nur, wo wir zu
ihnen stossen könnten, wir wären gerettet: Essen
und Waffen! KLOTZ: Bist du sicher, dass ihr
mit den Waffen über die Bürger siegen würdet?
JUNGER MENSCH: Wir sind am Zusammenfall.
Schlimmer wird es nicht.
. SIEBENTE SZENE
Vorige / Greis / Volk
GREIS (stürzt auf, mit ihm Volk): Waffen ! Waffen 1
IrgendwcPsollen Waffen sein! Die Bürger sind in
der Stadt. Um uns rückt die schwarze Mauer von
Stahl und Gas heran und würgt uns zusammen!
JUNGER MENSCH: Weisst du nicht, wo Waffen
sind? Ich weiss es nicht!
ACHTE SZENE
Vorige / Das ganze Volk kommt /Junge/
Alte / Der Bucklige / Der Krüppel
JUNGER MENSCH (zum Volk): Wir finden sie
nicht. Es ist nur ein Gerücht. Die Brüder sind
III
nicht da. GREIS: Es gibt keine Waffen, VOLK
ffVehgeschreiJ: Untergang! JUNGER MENSCH:
Es gibt kein Brot! VOLK: Hungertod! STIMMEN
AUS DEM VOLK: Alles zu Ende! DER RUCKLIGE:
Es lohnt nichts mehr. Wir sterben doch. Verrecken
vor Hunger oder werden erschlagen. DER
KRÜPPEL: Dann sterben wir lustig! Die Weiber
sollen lachen, da erstickt sich's leichter in der Lust !
DIE FRAU: Der Zerfall ist im Volk. Bin ich das,
bist du das, waren wir das? O armes, lebendes
Geschwür, das verwesend von der Erde abblättert !
Rann ich noch helfen? DER MANN: Verfaulung.
Ganz tiefer Sturz — und ich sehe den Aufstieg.
Wir können helfen. Neues Blut in sie. Unser Blut!
fZu Klotz:) Hilf auch du! (Zum Volk:) Freunde,
heute feiern wir! KLOTZ: Alle Arbeit, Brüder,
alle Arbeit liegt still! VOLK (Gelächter. Plötz-
licher Jubel. Drängt hin und her): Alle Arbeit still.
— Wir feiern schon lang! JUNGER MENSCH:
Sterben, und keine Freundschaft; ohne Freund-
schaft sterben müssen ! EINE FRAU AUS DER
MENGE: Ach, ich mag nicht mehr. Lasst mich.
Genug. Ich will sterben. JUNGER MENSCH
(auf dem Boden, schwach): Ich kann nicht mehr.
GREIS: Ich friere so. Wärme mich. VOLK (wird
schnell starr und schwach): Sterben? GREIS:
Sterben. Alles ist hell und kalt wie Kristall!
DER MANN (zum Volk): Brüder! Haltet aus. Ver-
zweifelt nicht! STIMME AUS DEM VOLK: Was
willst du? DER MANN: Eure Rettung! DER
RUCKLIGE: Wer spricht zu uns von Rettung?
DER MANN: Die Brüder! DAS VOLK (springt
112
auf) : Rettung ! Brot ! Waffen ! Sieg ! D E R G O U -
VERNEUR: Ja, Sieg! Aber Sieg ohne Waffen!
DER BUCKLIGE: Ohne Waffen? DERGOÜVER-
NEÜR: Wir haben keine Waffen. DER KRÜP-
PEL. Ihr bringt uns Brot? KLOTZ: Wir haben
kein Brot! DER MANN: Wir bringen euch die
Kraft!
ACHTE^SZENE
Vorige / Nauke
NAUKE (stürzt auf): Betrug! Da sind sie! Greift
sie! Nieder mit den Schwindlern. Schlagt sie
nieder, die Schufte, sie bringen euch Unglück, sie
bringen jedem Menschen Unglück! Schlagt sie
tot! Sie lügen euch an. Sie sind schuld, dass ihr
vor Hunger zu Grunde geht. Sie sind schuld, dass
ihr mit den Bürgern im Kampf seid. Ohne sie
hättet ihr Essen und ruhiges Leben! Die Bürger
sind über euch, ihr seid besiegt! Erschlagt die
falschen Brüder, das ist eure einzige Rettung vor
den Bürgern, sonst werdet ihr selbst niedergemacht.
DER MANN: Volk, hör mich! Die Bürger sind be-
siegt! NAUKE: Lüge, sie sind auf dem Marsch
gegen euch. DER MANN: Wir alle, ihr und wir,
sind stärker als alle Bürger der Welt ! D E R K R Ü P-
PEL: Wem kann man glauben ? DER BUCKLIGE:
„Wir"? Wer ist das — „wir"? KLOTZ: „Wir",
das sind wir alle hier, alle Völker der Erde, alle,
die arbeiten, denken, leben wollen!
NAUKE: Spion! Agent! STIMMEN AUS DEM
VOLK: Zurücknehmen! Nimm das zurück! Be-
8 Rubiner, Die Gewaltlosen 1 1 3
weis! NAUKE (holt zum Reden aus): Volk! Hel-
den! . , . STIMMEN AUS DEM VOLK: Es gibt
keine Helden! Nieder mit dem Kerl! Nimm das
Wort zurück! ANDERESTIMMEN: Nieder mit
dem Kerl! Seine Worte lügen uns an! DIE FRAU:
Er ist euer Verräter! ANNA: Er hat die Bürger
in die Stadt geführt! NAUKE: Sie brachten euch
Essen! VOLK: Essen! KLOTZ: Lüge! Lüge! Sie
brachten euch nichts, ihr habt es erfahren —
nichts! Ihr hungert, weil sie es wollten! NAUKE:
Volk, Sieger ... VOLK: Wir sind nicht Sieger.
Er lügt. Nieder!
DER GOUVERNEUR: Lasst ihn! Er ist nur
schwach und zweifelnd! Wir sind die Schuldigen,
wir die Söhne der Erde, wir die Sternbrüder, wir
die Erweckten. OpdFert uns — so werdet ihr den
Sieg haben! JUNGER MENSCH: Seid ihr die
Retter? DER GOUVERNEUR: Wir haben keine
Waffen. Wir haben kein Brot! JUNGER MENSCH:
Wie retten wir uns? DER GOUVERNEUR: Noch
schweben wir zu fern von euch. Nehmt uns: er-
schlagt uns, wenn ihr wollt. Tötet uns, wenn ihr
sehen müsst, wie unsere Seele in euch lebt: Die
Menschheit! Schluckt uns auf. Lasst uns ver-
schwinden unter euren Füssen und Fäusten —
und ihr habt unsere Waffen. JUNGER MENSCH:
Eure Waffen? KLOTZ: Unsern Willen. DER
MANN: Unser Denken, unsre Arbeit: Euer Brot!
DIE FRAU (stürzt dazwischen, zu den Brüdern):
Nein! Nein! Zu viel! Haltet zurück. Nicht das
Opfer! Noch lebt ihr, Freunde. Wir sind gemein-
sam durch die Schrecken der Welt gegangen, und
ii4-
nun sollt ihr sterben! Dies eine Mal lasst euer
Denken nicht den Schritt zur Wirklichkeit machen.
Bleibt! Es ist zu grauenhaft auf dieser letzten
Schwelle! DER MANN: Nein, Frau, wir bleiben
nicht zurück. Unser Weg kostet unser Leben.
DIE FRAU: Und deine Schöpfung? Ist sie, wenn
du stirbst? DER MANN: Sie wird erst, wenn ich
nichts mehr vor ihr bin! DIE FRAU: Sterben —
Opfer? Wenn nichts anderes herrscht, dann ist
die Erde eine Wüste! DER MANN: Nein, das neue
Morgenreich! Nur zu wollen brauchen wir und
zu tun ! DERCOUVERNEUR:Ich hab das Wort
gesprochen : Opferung. Ich sprach das Gesetz aus.
Nun war ich wieder ein Tier, wie ehemals. Gab
Gesetze. Ungeläutert immernoch. Das war Sünde,
wenn auch zur Rettung. Das letzte Mal, es bleibt
nichts anderes. Wir müssen hinab.
NAüKE fzum Volk): Seht ihr, wie sie beraten?
Seht da den Feind — fort müssen sie! Hört auf
mich! Sie helfen euch nicht, wenn sie leben. Es
sind Fremde! Sie sprechen eine andere Sprache
als ihr. Ihr seht die Feinde nicht? Hört ihre
Sprache, seht ihre Gestalt! DAS VOLK : Sie spre-
chen eine andere Sprache. Sie sind Fremde.
KLOTZ: Volk, du zögerst. Glaube uns dies letzte
Wort, dass wir nicht Schonung brauchen . STIM-
MEN AUS DEM VOLK: Geht! Verlasst die Stadt!
DER MANN: Und euer Kampf? Ihr wollt unter-
liegen? Die Bürger fallen über euch her und schla-
gen euch zu wehrlosen Sklaven! DAS VOLK: Die
Bürger ? !
DER GOUVERNEUR. Wer seid ihr? Denkt, wer
8* Ii5
ihr wart vor eurer Geburt! Taucht hinab in euch
— kommt über uns, weil wir euch fremd sind,
und blickt in euch selbst: Da — einmal wusstet
ihr, dass die Erde euch gehört, das Feld, die Fa-
brik euch, wie euer eigener Arm! Vergessen habt
ihr. Habt euch heut hinübergehungert über den
letzten Verfall. Seid im Greisenalter. Hinein müsst
ihr in neue Jugend, hören wieder die Schilfgräser
summen an eurem Fluss. Hinab tauchen müsst
ihr in euch. Hinaus springen über uns, ohne Die-
nerscheu; nie sonst werdet ihr befreit von eurer
schielenden Zweideutigkeit. Volk, deine Gewiss-
heit und deine Kraft geht über uns! Dann habt
ihr Kraft über die Bürger. VOLK (in grosser
Angst): Die Bürger ! N A U K E : Was habt ihr Angst
vor den Bürgern, die ihr nicht seht? Die hier sind
gegen euch! Ihr flieht vor den Bürgern? Das da
sind eure Bürger! KLOTZ: Volk, wir sind es,
wir. Ihr wartet auf die Gewalt? Übt sie an uns!
Ihr hungert? Fort mit unseren Mäulern! Ihr meint
noch, wir seien euch Führer? Wollt ihr wissen,
wer wir sind? Ich sag euch alles, das Verruchteste!
Heut Nacht hat ich einen Traum — ich bin nur
einer von uns — und ich träumte unsere Wahr-
heit, denn der Traum schob die Riegel fort von
meiner Verstellung. Da war in einem Saal mit
glattem, weitem Boden ein Befehlsmensch, ein Blut-
herrscher. Ichstand gekrümmt vorihm. Was ich da-
bei dachte? Ich dachte an das Ehrenregiment, das
mir verliehen wurde. „Hol mir ein Auto !" rief der
Herrscher. Ich fand mich sehr geehrt und lief unter-
würfig hinaus wie ein Diener. Ich hätt es geholt,
il6
da erwachte ich. Das bin ich, das sind wir. Hab
ich nach diesem Traum noch das Recht für die
Menschen zu arbeiten? STIMMEN AUS DEM
VOLK: Verräterei! Sie verkaufen uns an die Herr-
scher! Nein, tut ihnen nichts, es ist nur ein Traum !
KLOTZ: Nur ein Traum? Aber das Schhmmste
wisst ihr noch nicht. Jetzt zeig ich es euch. fEr
ballt die Hände hohl übereinander und streckt sie
vor, als enthielten sie etwas.) Wisst ihr, was ich in
meinen Händen bewahre? Hier? Orden, Auszeich-
nungen, Dokumente, Freundschaftsbriefe und Pläne
feindhcher Herrscher! (Das Volk in tvütender Un-
ruhe.) DER MANN f leise zu KlotzJ: Was hast du
in den Händen? KLOTZ (leise zum Mann): Du
weisst es — nichts! (Laut zum. Volk:) Volk, so
werf ich diese Schätze von Ehre und Reichtum
unter dich! Verachte sie, sie sind deine grösste
Gefahr! (Er macht init beiden Händen eine xveite
Wurfbeivegung über die Köpje des Volkes hin. Das
Volk blickt in die Höhe und streckt alle Hände J ang-
bereit hoch.) DIE EINE GRUPPE DES VOLKES:
Gefahr, er verkauft uns! Niedertracht! DIE AN-
DERE GRUPPE DES VOLKES: Wo ist es? Wer
hat etwas bekommen? Hast du's gefangen? DAS
GANZE VOLK. Es ist nichts da! (Wutgebrüll:)
Lüge!
N AUKE (Schill): Sie haben gemacht, dass ihr hun-
gert! STIMMEN AUS DEM V OLK: Wer sindsie?
Fremde. Lügner. Verräter. Sie wissen nichts von
vins. Sie mässten sich an uns. DER RUCKLIGE:
Seht ihre Sitten ! DERKRÜPPEL: Seht ihre un-
verschämte Leichtigkeit. N A U K E : Volk, sie haben
117
verhindert, dass ihr Essen findet! Sie sind am
Fortzug unserer Retter schuld. Sie haben die Bür-
ger besiegt. {Im Volk anschwellendei^ Lärm.) DER
GOUVERNEUR (über dem Lärm): Nicht besiegt.
Wir siegen nicht. Es gibt keinen Sieg! Hinaus mit
dem Sieg aus der Welt! Wir sind nicht Soldaten,
wir sind Menschen! Nicht Sieg befreit euch — nur
eure Erkenntnis! VOLK (anschwellend): Tod!
NEUNTE SZENE
Die Volksmenge stürzt sich auf den Mann,
Klotz, den Gouverneur imd zerrt sie in ihre
Mitte
ANNA (hervorbi-echend): Wie sie geschlachtet wer-
den! Ich ertrag es nicht länger, dieses Opfern! Ich
bin bei euch. Ich will mit euch sterben! DIE
FRAU: Befreiung! Warum bleiben wir so still?
Wir befreien sie! ERSTER GEFANGENER: Wir
sind zu wenige! DIE FRAU: Dann sterben wir
mit ihnen. ANNA, DIE FRAU, DIE REIDEN
GEFANGENEN, DER OFFIZIER: Brüder, wir
sterben mit euch! (Wollen zu den Gefangenen.)
KLOTZ (aus dem Haufen): Nein, bleibt! Ihr müsst
leben! Dazu ist unser Opfer, dass ihr unter alles
Volk der Erde geht und die Hingabe lehrt für
die Menschheit! JUNGERMENSCH: O, Strom
in mir! Wussten wir das je? Durch uns rinnt
Willen! DER MANN (zum Volk): Noch einen
letzten Schritt, dann bin ich geworden wie ihr.
Nun werdet ihr wie ich ! VOLK: Hohn ! Er höhnt
uns! (Dem Mann werden die Hände gebunden.)
Ii8
DER GOUVERNEUR (zum Mann): Das ist deine
Sünde, auch wenn du recht hast. Dein letzter
Hochmut ! DER MANN (mit gebundenen Händen) :
Ich habe Todesangst. Aber ich sterbe für euch.
Aus Jahrtausenden fiel ein Funke in mich, ich
warf ihn weiter — lasst ihn brennen in euch!
DAS VOLK (plötzliche Angst): Kein Blut mehr,
Brüder! (Zu den Brüdern:) Ein Wunder, tut doch
ein Wunder mit eurem Willen! DER GOUVER-
NEUR: Es muss sein. Das Wunder, Volk, und
der Wille sind nicht mehr bei uns, jetzt sind sie
bei euch. GREIS: Bei uns ist das Wunder? Dann
müssen wir nicht sterben, dann können wir leben?
DER MANN: Volk, du hast uns bezwungen, nun
feire dein Fest. KLOTZ: Weltfeiertag! Volk, du
bist frei. In allen Ländern ruht die Arbeit. Nun
atme neue Kraft für morgen! DER GOUVER-
NEUR: Weltfeiertag! Weltfreudentag! Unser
Opfer — dein Spiel zum Fest! Jetzt spring und
tanze! (Über die Menge hin:) Unser Opfer — dar-
nach wachst du auf zur reinen Morgenkraft !
JUNGER MENSCH: Weltfeiertag! VOLK (in
Bewegung): Weltruhetag! (Fo7i hier an im Volk
a nsch we llende Ra usch- Beweg u ng .)
JUNGER M E N S C H (^m halbliegender Stellung auf
dem jßo(/e«yi: Weltfeiertag! Ich feire! Weltruhetag!
Meine Hände spielen. O wie lang war das nicht.
Endlich seh ich wieder um mich die Halme wach-
sen; hoch über den weissen Wolken schwebt blauer
Luftglanz! Weltfeiertag! O Freundschaft, Freund-
schaft zu allen Menschen! VOLK: Weltfeiertag!
(Es erhebt sich ein orgiastischer Taumel. Sie dringen
119
immer ivilder aufeinander ein, hedrohen sich, um-
halsen sich, stossen, schieben sich, fallen durchein-
ander.) N A ü K E (mitten anfeuernd zwischen dem
imtner toller heivegten Volk): Zu trinken! GREIS:
Es gibt nichts zu trinken! NAÜKE: Dann unser
Vergnügen, dann unser Spiel! Die Opferung —
ihr vergesst! Die Opferung, sie haben es selbst ge-
wollt! Die Opferung, es ist versprochen! DER
BUCKLIGE: Die Hinrichtung! Haben wir nichts
zu essen — so wollen wir was zu schauen haben !
DAS VOLK (die Orgie schwillt immer mehr an) :
Ja, ja! Die Hinrichtung! KLOTZ: Volk, du er-
kennst deine Kraft! DER MANN: Volk, dein neues
Leben beginnt ! Die letzte Gewalt gegen uns ! DER
GOUVERNEUR: Volk, nun brauchst du nicht
Führer mehr. Wir treten ab. Zum letzten Mal
von mir dieses Wort des Befehls: Zerstör und
schaffe! VOLK: Nieder mit den Führern! Wir
haben selbst die Kraft ! (Das ganze Volk stürzt sich
auf die Drei.)
ZEHNTE SZENE
Trommelwirbel. Das Volk umgibt den Mann,
Klotz, den Gouverneur und schlägt auf sie.
VOLK: Sie fallen. — Sie sind tot. JUNGER
MENSCH: Tot! — Meine Brüder! — tot! DER
BUCKLIGE; Wo sind sie ? Ich seh sie nicht mehr !
Die Drei (der Mann, Klotz, der Gouverneur)
sind unter den Fäusten der Menge verschivunden.
Das Volk reisst ihnen die Kleider vom Leihe, schlägt
auj die leeren Kleider iveiter los iind drängt die
120
Drei zur Bühne hinaus. DER KRÜPPEL: Sie
sind verschwunden! GREIS: Was macht ihr?
Schaut doch! Halt! Ihr Verhiendeten ! Ihr schlagt
los auf leere Kleider und Fetzen ! (Die Orgie des
Volkes nimmt schnell ab.) JUNGER MENSCH: Wo
sind sie? tot? Ich sehe nichts! DAS VOLK (hält
voll Grauen die leeren Röcke, auf die es einge-
schlagen hat. Mächtiger Aufschrei des Entsetzens):
Ah! Gewalt! — NAUKE. Schnell die Taschen
durchsuchen, ob Geld drin ist! (Er greift in die
Taschen der leeren Röcke, holt mit beiden Händen
Geld hej-axis.) Aha; endlich — meine Zukunft ist
gesichert! (Läuft ab. J ERSTER ALTER GEFAN-
GENER (hinter ihm): Du Lump, was tust du? Du
Dieb ! O du Dummkopf — es gibt ja morgen gar
kein Geld mehr! VOLK: Gewalt! — Wir sind
verloren! Das Ende!
ELFTE SZENE
Vorige ohne den Mann, Klotz, den Gou-
verneur, Nauke
DER JUNGE MENSCH: Mord! Mord! Ihr habt
sie erschlagen. Ein Weltgemetzel ist geschehen.
Eache! Rache für die Führer. Rache für den Mord!
STIMMEN AUS DER MENGE: Mord! — Rache
für den Mord! DER KRÜPPEL: Wir sind un-
schuldig, sie haben es selbst gewollt ! D E R R U C K -
L I G E : Aufruhr ! Hilfe, schlagt sie nieder. Nieder
mit den Aufrührern! ZWEITER GEFANGENER:
Kinder und Weiber erschlagt ihr. Mörder ihr, aber
ihr könnt den Menschen nicht töten ! DER JUNGE
121
MENSCH: Rache! Nieder mit den Mördern! Tot
sind sie, tot die Führer! ZWEITER GEFANGE-
NER: Mehr als Rache! Sie liessen uns Höheres:
Aus ihren zerfetzten Hüllen erhebt sich die Mensch-
heit ! ERSTER WÄCHTER: Die Führer sind tot.
Aber spür in deiner Hingabe ihren Geist: ewig
lebend unter uns handelt ihr unsterblicher Wille!
DERJüNGEiMENSCH: Tot, tot die Grossen!
ERSTER GEFANGENER: Sie Starben für uns.
Wir Kleinen leben. In uns Kleinen leben sie weiter!
Die Zeit der Kleinen ist gekommen. ERSTER
WÄCHTER: Millionen Leben beginnen. Das Volk
— zum erstenmal das Volk! Das Wunder kam
über die Welt! ZWEITERGEFANGENER:
Nicht das Wunder — die Tat! Wir sind nicht
mehr die Kleinen. Wir sind aus dem Dunkel ans
Licht gestiegen — die Kameraden unter allen
Völkern der Erde. — Nun rücken die Mächtigen
der Welt zum Kampf gegen uns, wie gegen den
furchtbarsten Feind! DER JUNGE MENSCH:
Mit euch! Meine Arbeit beginnt!
ZWÖLFTE SZENE
Vorige / Die drei Revolution ärinnen
eilen auf
ERSTE REVOLUTIONÄRIN: Ein Wunder ist
geschehen ! Z WEITEREVOLUTIONÄRIN: Das
Glück ist da! DRITTE REVOLUTIONÄRIN: Die
Freiheit kommt ! JUNGER MENSCH: Wisst ihr
nicht, dass hier Mord wütet? — Glück? was ist
das? Wir kennen nur noch die Zukunft und un-
I 22
seren Willen! ERSTE REVOLUTIONÄRIN:
Siereissen die Wälle um die Stadt nieder! ZWEITE
REVOLUTIONÄRIN: Sie schütten dieGräbenzu!
DRITTE REVOLUTIONÄRIN: Die Menschen
stürzen aus der Stadt durch die Felder und rufen
allem Volk „Freiheit" und „Brüderschaft" zu!
ZWEITE REVOLUTIONÄRIN: Funkenblitze
sind hinübergesandt zu uns, und Boten kommen:
in allen Ländern der Erde grüsst sich das Volk!
ERSTE REVOLUTIONÄRIN: Rauch steigt
wieder aus den Häusern. DRITTE REVOLU-
TIONÄRIN: Aus den Wäldern kommen unend-
liche Scharen von Fremden, dicht wie Laub. Sie
schwenken unsere Fahnen, und wo die Unsrigen
ihnen begegnen, umarmen sie einander! ERSTE
REVOLUTIONÄRIN: Hört ihr? Hört ihr über
uns, um uns, hoch das Summen? Die Telegraphen
strömen unsere Botschaft zu allen Freunden um
die Erde! OFFIZIER: Wir sind von euch. Ihr
seid wir. Wir sind Volk, Alle kräftigen Arme her :
Wir wollen arbeiten ! Als freie Menschen arbeiten !
ERSTER GEFANGENER: Alle kräftigen Arme her:
Wir backen Brot! DAS VOLK: Wir! Kameraden!
Freiheit! Leben! (Der zweite Gefangene, die
drei Revolutionärinnen und das Volk at.)
DREIZEHNTE SZENE
Vorige ohne den zweiten Gefangenen,
die drei Revolutionärinnen und das Volk
DER JUNGE MENSCH: Ihr backt Brot? Werdet
glücklich? Zeugt Kinder, habt Familien? Dafür
123
starben die Brüder? — Ihr wollt die Erde um-
wuchern mit eurem Arbeitssamen, — Ich muss
euch stören! Heraus aus der Ruhe eures Lebens»
noch eh sie beginnt ! Nieder mit eurem dicken
Glück! — Zur Freiheit, zur Ewigkeit! OFFIZIER:
Wohin in die Ewigkeit? JUNGER MENSCH:
Zur neuen Schöpfung! DAS VOLK funsichtbar,
RuJeJ: Brot! Brot! ERSTER GEFANGENER:
Einen einzigen Laib Brot backen mit Freude —
darin strömt für uns Menschen alle Schöpfung zu-
sammen! DER JUNGE MENSCH: O Bruder, in
jedem Stück Eisen, das ihr aus der Erde holt, in
jedem Fetzen Leder, das Kameraden wissend da-
mit schneiden, holt ihr ein Stück von eurem
Morgenreich zu euch. Aber immer muss neue
Bitternis sein. Immer müssen Menschen jagen über
die ganze Welt, die euch treiben, dass ihr nicht
vergesst ewig aufs neue den Sprung zum Morgen-
reich zu \va gen I OFFIZIER: Wiedergeburt des
Menschen! DER JUNGE MENSCH: Mehr! Alles.
Das Höchste! Neugeburt! Neugeburt der Erde!
Neugeburt der ganzen Welt! DERERSTEGE-
F AN GENE: Wir Arbeiter der Welt — die Arbeit
beginnt! (Ab.)
VIERZEHNTE SZENE
Vorige ohne den ersten Gefangenen
DIEFRAU: Zu Ende diese Welt. Ermordet mein
Blut. Tot mein Weg! — Und ich half nicht. Ich
stand dabei! — Ich lebe noch! — Die Glieder
124
dorren schlaff an meinem Leib. — Versunken sind
die Häuser. Hier ist Wald; dunkler Wald rings.
Meine Haare wehen um die Stämme, dass ich
weiss: hier endet mein Leben. — Ich gehe von
euch. DER OFFIZIER. Ich bin mit dir. DIE
FRAU: O täusche dich nicht. Was du an mir sahst,
ist zu Ende. Ich bin über alle Stufen des dunkel-
sten Lebens geschritten, nun werde ich vergessen,
was ich wusste, und in das zweite Leben sinken.
Ihr seid höher als ich. Vergesst mich. Ich bin
euch verschwunden. DER OFFIZIER: Ich bin
nicht höher. Ich warf meine Gewalt hin. Ich bin
nur ein einfacher Mensch noch. Ich lebe mit dir.
DIE FRAU: Wölfin bin ich geworden. Lasst mich
allein. Die Wölfin beisst. DER OFFIZIER: Mit
dir bleibe ich allein. Mit dir grabe ich die Erde.
Mit dir in der Arbeit der Hände weiss ich nichts
mehr von den Strömen der Vergangenheit. Auf
der harten Erde schaffen wir von Jahreszeit zu
Jahreszeit. Auf engem Raum, fern von grossen
Stunden. Klein und unscheinbar sind wir gewor-
den. Vergessen vom Morgenreich, an dem wir
schufen. DIE FRAU: Ein einfacher Mensch. Die
grosse Hölle ist vorüber. Alle Menschen sehen den
Stern. Komm zu mir, du Vergessen sein ! DER
JUNGE MENSCH (zum Offizier): Bauer wirst du
sein. Still sitzen. Vergangenheit brüten; die Welt
zurückhalten! Hindern! — Und also — sind wir
Gegner? DER OFFIZIER: Nicht Gegner! — Mor-
gen leben andere an meiner Statt. Ich bin nur ein
Geringer. Ich will vergessen sein in meiner Arbeit
für euch. (Die Frau und der Offizier ah.)
125
FÜNFZEHNTE SZENE
Der junge Mensch und Anna
ANNA: Ah — niemals vergessen! Nie vergessen
Trümmerwut und Mord ! — Neue Menschheit, du
hebst dein Morgengesicht aus dem Dunkel. Wissend
seid ihr: Verbrannt und neu gezeugt im Blut. —
Eure Kraft treibt mich weiter. Ich gehe. DER
JUNGE MENSCH: Mit uns! ANNA: Ein Zeitalter
ist zu Ende. DER JUNGE MENSCH: Ich bin
am Anfang. In dieser Stunde bin ich geboren.
ANNA: Du hast die Welt um dich. Aber wo
bleibt mein Leben? DER JUNGE MENSCH:
Komm, dein Leben beginnt heute neu. Wir sind
Kameraden. Und spür ich auch nie mehr deinen
Arm um meinen Hals, wir müssen weiter! Unser
Weg geht noch durch viele Länder.
Ende
Von Ludwig R U b i n e r erschien :
Das Himmlische Licht
Verlag Kurt Wolff, Leipzig 191 6
Der Mensch in der Mitte
Verlag „Die Aktion", Berlin 191 7
Tolstois Tagebuch
Herausgegeben nach dem geistigen Zusammenhang.
Europäische Bücher, Verlag Rascher, Zürich 1918
Voltaire: Die Romane und
Erzählungen
In deutscher Sprache herausgegeben. Verlag
Gustav Kiepenheuer, Potsdam 1919
Kameraden der Menschheit
Ein Sammelbuch von Dichtungen zur Weltre-
volution.VerlagGustav Kiepenheuer, Potsdam 1 9 1 9
Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt
ix.
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UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY
PT Rubiner. Ludwig
26'^5 Die Gewaltlosen
U13&4